Drei Tage auf Lampedusa

Wir waren auf Lampedusa. Der Anlass war der dritte Jahrestag der Tragödie, die sich dort am 3. Oktober 2013 ereignete, als ein aus Libyen kommendes Schlepperboot mit ca. 550 Flüchtlingen an Bord vor der Insel kenterte und knapp 400 von ihnen ertranken. Im Rahmen der Gedenkfeierlichkeiten wurde in der Ortskirche auch die multimediale Lesung „Ein Morgen vor Lampedusa“ aufgeführt, die unsere hannoversche Projektgruppe unter der Leitung von Antonio Riccò erstellt hatte. Die Leserollen übernahmen diesmal Inselbewohner. Die Kirche war voll, das Publikum bestand vor allem aus Inselbewohnern und einer Gruppe von Eritreern, die das Unglück überlebt hatten. Aber nicht darüber möchte ich hier berichten. Sondern über ein Stück Realität, das zum heutigen Lampedusa gehört. Obwohl es im Leben der hier wohnenden Menschen kaum eine Rolle spielt und es die Feriengäste meiden.

Auf der Suche

In Lampedusa wurde vor einem Jahr der erste der von der EU geforderten 4 italienischen „Hot Spots“ eingerichtet, deren Aufgabe es ist, Migranten, die Europa erreichen, erst einmal zu erfassen, zu registrieren und einer Sichtung zu unterziehen: Wer ist ein „echter Flüchtling“, wer „Wirtschaftsmigrant“, wer „Terrorist“? Die Migranten sollen sich hier nur wenige Tage aufhalten, um dann entweder schnell abgeschoben oder weiter auf andere Unterkünfte in Sizilien oder auf dem Festland verteilt zu werden. So die Theorie. Auf dem Papier liegt die maximale Aufnahmekapazität dieses Hot Spots bei 450 Personen, in diesem Sommer hausten dort zeitweise über 1700.

Weil wir den Hot Spot selbst in Augenschein nehmen wollten, kauften wir uns am Tag unserer Ankunft einen Plan, der versprach, die interessantesten Orte der Insel zu zeigen. Aber auf dieser Karte gab es keinen „Hot Spot“. Er war zwar erst in diesem Frühjahr in Betrieb genommen worden – zu aktuell für diesen Plan? Wir beteiligten uns an der Demonstration eines Solidaritätskomitees für die Opfer des 3. Oktober 2013, und ich dachte einen Moment lang, das Ziel könne eigentlich dieser Hot Spot sein. Aber damit stieß ich auf Achselzucken (das angesteuerte Ziel lag näher und war weniger konfliktträchtig: die berühmte „Porta di Lampedusa“).

Der „Hot Spot“ von Lampedusa

Der "Hot-Spot" von Lampedusa

Der „Hot-Spot“ von Lampedusa

Schließlich fuhr uns unser Freund V. in seinem geländegängigen Auto ins Inselinnere. Wir erreichten das Eingangstor, wo uns von Uniformierten im Tarnanzug durch das Gitter beschieden wurde, dass es hier für uns keinen Eintritt gebe und Fotografieren nicht erlaubt sei. Auf Umwegen erreichten wir einen Hügel, von dem aus wir auf das Lager herabschauen konnten. Es zeigte sich in einer Senke versteckt, von Stacheldraht und auf einer Seite von einer doppelten Mauer (wie die Berliner Mauer) umgeben. Ein Trakt war unbewohnt, in dem es offenbar gebrannt hatte. Hier hätten „die Tunesier“ Feuer gelegt, sagte V., weil sie hofften, noch vor ihrer Registrierung und zu erwartenden Rückschiebung nach Sizilien verlegt zu werden, wo sie verschwinden konnten. Aus dem Lager drang leidenschaftliches Geschrei, dort wurde Fußball gespielt. Ein paar Afrikaner winkten uns aus einem Fenster zu. Wir winkten zurück, etwas unsicher, welche Botschaft sie uns und wir ihnen damit eigentlich zukommen ließen.

Von dem, was gleichzeitig ein paar Kilometer weiter im Ort Lampedusa geschah, das gerade in diesem Moment ja eigentlich auch sie, die Insassen dieses „Hot Spots“, betraf, waren sie völlig abgeschieden. Für diejenigen, die gleich wieder abgeschoben werden, bleibt dieser Hot Spot vielleicht die einzige Erinnerung. Auf die meisten derjenigen, die es schaffen, erst einmal der Abschiebung zu entgehen, warten Massenunterkünfte, von denen wir einige kennen. Auch für sie wird sich an dieser Abgeschiedenheit nur langsam etwas ändern.

Die Humankosten der „Kontrolle“

Hier, in der lampedusanischen Abgeschiedenheit, bekommt man eine Ahnung davon, was es heißt, wenn Europa die Migrationsströme „unter Kontrolle“ bringt. Der „Hot Spot“ ist das Nadelöhr, durch das jeder Migrant in die große Kontrollmaschine eingefädelt wird. Es beginnt gleich mit Mauern und Stacheldraht, mit Internierung und Isolation. Geht es hier „nur“ um das unschuldige Ziel der Registrierung? Die Migranten wissen: Wo sie ihre Fingerabdrücke lassen, da sind sie von nun an festgenagelt. Kein Wunder, dass sich viele von ihnen zu entziehen suchen, um einen Rest von Autonomie zu behalten. Ehemalige Insassen des „Hot Spots“ von Lampedusa behaupten, dass bei ihrer Registrierung auch körperliche Gewalt angewendet wurde. Die Wachmannschaften, so hört man, bestreiten es. Die Wahrheit bleibt im Dunklen, denn hinter den Mauern der „Hot Spots“ gibt es keine „Volontari“, die irgendjemandem auf die Finger schauen könnten. Die Kehrseite der „Kontrolle über die Migrationsströme“, von der gerade auch die deutsche Regierung so gern spricht, ist der Ausschluss jeder Öffentlichkeit.

Geht es hier wirklich nur um die Prozedur der ersten Registrierung, die diese Härte vielleicht rechtfertigen könnte? Die Re-Anonymisierung, die in den Hot Spots stattfindet, bestimmt die gesamte europäische Flüchtlingspolitik. Der Zustrom der Flüchtlinge soll ja für ganz Europa zu einem Rinnsal werden. Da ist es besser, den Zustrom der Flüchtlinge schon vor den Toren Europas aufzuhalten. Das Abkommen mit der Türkei war der erste Schritt. Ein ähnliches Abkommen mit Ägypten (ausgerechnet!) soll folgen. Als nächstes käme Libyen dran, dann weitere afrikanische Staaten. Für einen Deal im Fernhalten von Flüchtlingen ist der EU kein Regime zu mörderisch. Der innere Frieden mit denen, die bei uns AfD oder CSU wählen, ist es wert. Die Kollateralschäden bleiben gnädig außer Sicht. In den fernen Lagern der Türkei oder Ägyptens, an den europäischen Außengrenzen in den abgeschirmten „Hot Spots“.

Nicht nur Opfer, sondern Menschen

Trotz allem gibt es noch Flüchtlinge, die es schaffen. Unter den Touristen, die am Ende dieses Septembers über die Hauptstraße von Lampedusa flanierten, wurden zwar keine Afrikaner aus dem Hot Spot gesichtet. Die blieben dort weggeschlossen. Aber trotzdem tauchten unter den Touristen auch einige dunkle Gesichter auf: Eritreer, die vor drei Jahren zu den knapp 150 Geretteten gehörten und nun am Gedenktag teilnehmen. Sie, die damals nur knapp dem Tod entgingen, wollten sich an diesen Tag erinnern, gemeinsam mit ihren Landsleuten und mit ihren Rettern. Fast alle verloren an diesem Tag Brüder, Schwestern, Kinder, Freunde. Einer von ihnen, den wir trafen, nennt den 3. Oktober 2013 den Tag seiner „Wiedergeburt“. Er kehrt an jedem 3. Oktober nach Lampedusa zurück, um sie zu wiederholen: Er lässt sich ins Wasser gleiten, um sich von seinem damaligen Retter erneut herausziehen zu lassen. Ein Ritual, fremd für unseren „aufgeklärten“ Verstand. Aber es zeigt sich darin der sehr individuelle Wille, sein Trauma von damals nicht nur immer wieder zu erleiden, sondern zu formen.