Aufstand der Unsichtbaren

In der kleinen Gemeinde Sesto Fiorentino, nicht weit von der toskanischen Hauptstadt, bewarfen vor einigen Tagen ca. 1000 chinesische Einwanderer bei einer Protestkundgebung die anrückenden Polizisten mit allem, was sie nur zu fassen bekamen: Pflastersteinen, Dosen, Flaschen, Holzkisten. Es gab auf beiden Seiten einige Verletzte. Zu der nächtlichen Kundgebung hatte das soziale Netzwerk „we-chat“ in der chinesischen community aufgerufen. „Ihr seid Diebe“ stand auf einem Flugblatt in italienischer und chinesischer Sprache „Der italienische Mafiastaat ist nur fähig, von den chinesischen Bürgern Geld zu kassieren. Wir fordern Gerechtigkeit!“.

Die Wut richtet sich gegen die vermehrten Kontrollen staatlicher Behörden in den vielen kleinen Textil- und Lederfabriken, die chinesische Einwanderer, meist schwarz, zu menschenunwürdigen Bedingungen und für Hungerlöhne beschäftigen. Völlig isoliert vom Rest der Bevölkerung verbringen sie ihre Tage und Nächte zusammengepfercht in trostlosen, meist abbruchreifen Lagerhallen, die ihnen gleichzeitig Wohnstätte und Arbeitsplatz sind.

Wut wegen staatlicher Kontrollen

In der von Sesto nicht weit entfernten Kleinstadt Prato waren 2013 in einer dieser Hallen sieben chinesische Textilarbeiter bei einem Brand ums Leben gekommen (wir berichteten). Nach der Tragödie gab es Stimmen, die verstärkte Kontrollen forderten. Zum Schutz der Arbeiter einerseits, aber auch, damit die Betriebe ihren steuerlichen und sonstigen rechtlichen Pflichten nachkommen. Nun finden tatsächlich vermehrte Inspektionen statt, was nicht nur die chinesischen Betreiber, sondern auch die Arbeiter als Schikane empfinden. Sie beklagen Übergriffe der Kontrolleure der Carabinieri und „Guardia di Finanza“, berichten über Misshandlungen oder die Konfiszierung von Handys mit Fotos, die das Fehlverhalten dokumentieren sollen.

Dass der Präsident der Region Toskana, Enrico Rossi (PD), die Sache anders sieht, überrascht kaum. Die verstärkten Kontrollen seien absolut notwendig, erklärte er nach den Zusammenstößen. Jeder wisse, dass in Prato und Sesto chinesische Unternehmen massenhaft Steuern hinterziehen und die Arbeiter unter sklavereiähnlichen Verhältnissen ausbeuten. Ganz zu schweigen von der illegalen Entsorgung giftiger Abfälle aus der Textilbearbeitung. Und jeder wisse auch, dass dahinter mafiose Strukturen stehen, die zwecks „Anwerbung“ von Arbeitern einen regelrechten Menschenhandel betreiben und nebenbei auch mit der Zwangsprostitution Geschäfte machen. „Sollten wir so etwas vielleicht nicht hart bekämpfen?“ lautet seine rhetorische Frage, er kündigt aber an , „den angeblichen Übergriffen nachgehen“ zu wollen.

Ein soziales und ethisches Dilemma

Die Protestexplosion in Sesto macht ein soziales und ethisches Dilemma sichtbar, das von Politik und Öffentlichkeit gerne verdrängt wird. Ganze Wirtschaftszweige (über)leben, weil sie scharenweise Einwanderer wie Sklaven beschäftigen. Illegal oder „halblegal“ (indem sie zum Beispiel Sozialbeiträge nur für die Hälfte des realen Arbeitspensums entrichten). Ebenso wie Hunderttausende von Einwanderern davon leben, dass es solche Unternehmen gibt. Denn sie stellen für sie oft die einzige Chance im Konkurrenzkampf auf dem hart umkämpften Arbeitsmarkt dar.

Die chinesischen Textilarbeiter in Nord- und Mittelitalien sind nur ein Teil von ihnen. In der italienischen Landwirtschaft, vor allem in den kleinen Agrarbetrieben Süditaliens, werden fast ausschließlich ausländische Saisonarbeiter beschäftigt. Ob Sikhs und Bangladeshis im südlichen Latium, Nordafrikaner in Kampanien oder Bulgaren in Kalabrien. Sie schuften auf den Feldern und in den Gewächshäusern, im Sommer bei mörderischen Temperaturen, 10-15 Stunden am Tag (ohne Pause) für 1,50 bis 2,50 Euro die Stunde. Gelegentlich zahlen die Padroni auch gar nicht. 2 Euro die Stunde sei „eigentlich gutes Geld“, erklärte ein bulgarischer Landarbeiter Beamten der „Guardia di Finanza“, ihm habe man aber einen Monat lang überhaupt nichts bezahlt. Und als er sich beschwerte, hätten ihn die „Caporali“ (die „Vermittler“, die oft der der organisierten Kriminalität angehören) geschlagen und mit dem Tod bedroht („Die schwingen immer irgendwelche Knüppel in ihren Händen“).

Der bulgarische Landarbeiter brach das Schweigen und zeigte das Unrecht an. Eine Ausnahme. Denn die neuen Arbeitssklaven wissen, dass die Nischen der Schattenwirtschaft für sie meist die einzige Beschäftigungschance darstellen. Mancher Kleinunternehmer, der sie ausbeutet, sieht sich gar als „Wohltäter“, der „den armen Teufeln“ in der Not hilft.

Die „Wohltäter“ ihrerseits wissen, dass ihre Betriebe ohne die ausländischen Schwarzarbeiter nicht überleben könnten. Und wenden sich gegen den „räuberischen“ Staat, der ihnen mit Steuerforderungen und Gesetzen dazwischen funken will. Und erst recht gegen die Gewerkschaften, welche die Arbeiter „aufwiegeln“. Ein – übrigens netter – Landwirt, den ich gut kenne und der einmal als „Linksradikaler“ galt, stellte mir das Ganze als eine „Win-Win-Situation“ dar, von der beide Seiten profitieren. Um mir dann seelenruhig und ohne eine Spur von Unrechtsbewusstsein zu sagen: „Und stell Dir das mal vor, die Gewerkschaft ruft meine Leute dazu auf, auch noch während der Ernte zu streiken! Ist doch klar, dass wir ihnen dann keine Arbeit mehr geben! Und diese ‚poveracci‘ bleiben dann arbeitslos“. Er schüttelte den Kopf, voller Mitleid um deren Schicksal. Ich war sprachlos.

Aus der Geschichte lernen?

Den Verfechtern des Wohlfahrtsstaates (zu denen ich gehöre) dreht sich angesichts solcher Zustände der Magen um. Aber haben wir darauf wirklich Antworten? Dass man die Einhaltung von Tariflöhnen, Sozialversicherungen und Arbeitsschutzbestimmungen durchsetzen muss, ist richtig und schön. Und leicht gesagt. Dies darf jedoch nicht damit einhergehen, dass Einwanderer die Zeche für die Einhaltung der Wohlfahrtstandards zahlen, weil sie dann im Konkurrenzkampf um Arbeit schlicht unterliegen.

Auch für Frauen war und ist der Weg zur Gleichberechtigung auf dem Arbeitsmarkt bekanntlich lang und noch nicht am Ziel. Noch heute werden Frauen für gleiche Leistungen schlechter bezahlt als ihre männlichen Kollegen. Auch bei ihnen war und ist es notwendig, Antworten zu finden, die ihnen einerseits den Zugang zum Arbeitsmarkt öffnen, andererseits aber auch die progressive Angleichung an die für Männer geltenden Standards ermöglichen. Was für Frauen gilt, sollte auch für Migranten und Flüchtlinge gelten.

Eine differenzierte öffentliche Debatte über dieses schwieriges Thema steht nach meiner Meinung noch aus. In Italien, aber auch in Deutschland, wo die Lage osteuropäischer Arbeiter in der Fleischindustrie – um nur ein Beispiel zu nennen – nicht viel besser ist, als die der chinesischen, indischer oder nordafrikanischer Einwanderer in Italien.