Korruption bei den Wartelisten – die neue dritte Klasse

Es ist ein „Naturgesetz“: Wo in Italien öffentliche Gelder im Spiel sind, gibt es Korruption. Da es im Gesundheitswesen um besonders viel Geld geht – im Haushalt sind diesmal 112 Mrd. vorgesehen – ist die Korruption hier besonders kreativ. Sie findet tausend Ansatzpunkte: bei der Anschaffung von Instrumenten und Dienstleistungen, beim An- und Verkauf überteuerter Medikamente. Fachärzte, die auch schwarz arbeiten. Regionalpolitiker, die lukrative Chefarzt- und Manager-Posten verkaufen. Oder sich als Wohltäter zeigen, indem sie mit öffentlichen Geldern für ihre Klientel z. B. unnötige Ambulanzen anschaffen, für die dann natürlich auch noch Fahrer und Pfleger einzustellen sind (hier ist Sizilien führend). Die Korruption macht nicht einmal vor den Leichen halt, die zum regelmäßigen Ausstoß der Krankenhäuser gehören und den spezialisierten Unternehmen 3000 € pro Stück bringen, wenn es ihnen gelingt, sich ihrer zu bemächtigen. Der Chef der Anti-Korruptionsbehörde, Raffaele Cantone, resümiert: „Das Gesundheitswesen? Spielwiese für Missetäter jeden Kalibers“.

Patienten, die mitspielen

Was die Sache besonders hässlich macht: Hier geht es um Menschen, die von Leid und Krankheit geheilt werden wollen. Ihnen entzieht die Korruption Ressourcen, die zu ihrer Heilung eingesetzt werden könnten. Außerdem werden auch die Patienten der ständigen Versuchung ausgesetzt, ihr Mitspieler zu werden. Auf der Grundlage einer Untersuchung, die zwischen Anfang 2014 und Mitte 2015 stattfand, nannte der Staatssekretär im Ministerium für Gesundheit, Faraone, eine alarmierende Zahl: Allein in diesem Zeitraum hätten „gut 2 Millionen Italiener Schmiergelder eingesetzt, um sich im Gesundheitsbereich Vergünstigungen zu erkaufen, und suchten 10 Millionen ‚schwarz‘ Fachärzte auf“.

Warteschlangen vor dem Krankenhaus

Warteschlangen vor dem Krankenhaus

Eine übel duftende Blume auf dieser Spielwiese ist das Geschehen um die Wartelisten. Eigentlich dienen sie dem guten demokratischen Zweck, jedermann in den Genuss der Leistungen zu bringen. Da die Krankenhäuser und Gesundheitszentren jedoch oft personell und technisch unzureichend ausgestattet sind und die Nachfrage nach Diagnosen, Operationen und Heilverfahren samt den entsprechenden Spezialisten steigt, werden die Wartelisten immer länger. Und wenn dann noch organisatorisches Versagen hinzukommt: unbesetzte Schalter, Call-Center, die nicht antworten, lange Wartezeiten für die kleinste Information, wo allein schon die Auskunft, wo man sich anstellen muss, ein kostbares Gut wird, dann ist die Versuchung groß, sich selbst oder den teuren Verwandten im Bypass-Verfahren mit der Hilfe von „mazzette“ an den Wartelisten vorbei zu mogeln. Sind diejenigen, die es tun, nur arme Opfer eines Systems, das ihnen keine andere Chance lässt?

Der Einwand liegt auf der Hand. Ich kann mich nur an einer Warteliste vorbeimogeln, wenn es sie gibt und diejenigen, die in ihr stehen, nicht ebenfalls zu diesem Mittel greifen. Es sind meist diejenigen, die sich das nötige Schmiergeld nicht leisten können, die Armen, die Arbeitslosen, die Alten mit den Minirenten.

Eine Kommission, die nicht tagt

Folgendes geschah vor wenigen Jahren in Bosnien-Herzegowina einem Freund von mir. Als Erbe des alten Jugoslawiens gibt es dort immer noch eine allgemeine Krankenversicherung, welche die Korruption bis zur Unkenntlichkeit überwuchert hat. Im Bauchraum meines Freundes hatte man ein Aneurysma diagnostiziert, die krankhafte lokale Erweiterung einer Schlagader, die als lebensgefährlich erkannt wurde, weil sie jederzeit bersten konnte. Das offizielle Ergebnis: Operation dringend erforderlich! Das Krankenhaus, in dem sie stattfinden konnte, war schnell identifiziert. Es fehlte nur noch die Mitteilung der Krankenversicherung, dass sie die Kosten übernimmt, was nur noch eine eigens dafür eingerichtete „Kommission“ absegnen müsse. Eine Formsache, wie es schien, auch wenn der erste Dämpfer die Nachricht war, dass die Kommission nur einmal im Monat zusammentrat. Man musste sich also, so schien es, ein paar Wochen lang in Geduld fassen, was in diesem Fall nicht ganz leicht war. Dann aber begann das Katz-und-Maus-Spiel. Denn am Ende jeden Monats kam die Nachricht, dass die Kommission entweder nicht getagt hatte oder unser Anliegen nicht auf der Tagesordnung stand. Als nach einem halben Jahr nichts geschehen war, glaubte ich: Die warten auf seinen Tod, damit sich das Problem „von selbst erledigt“. Aber die Erklärung meiner bosnischen Bekannten war schlichter: Die warten auf Zahlung, in Konvertiblen Mark oder Euro. „Das funktioniert hier so“.

Zum Bestechen gehören also mindestens zwei. Der erste, der in diesem Fall die Nerven verlor, war übrigens ich. Wenn es nicht anders geht, sagte ich dem Freund, dann mach doch den Umschlag mit dem Geld fertig. Und da ich wusste, dass er fast kein Geld hat: Ich helfe Dir, es geht um Dein Leben. Ich hatte Angst um ihn und vor meinem eigenen schlechten Gewissen, da die Katastrophe mit jeder Woche, die verging, immer wahrscheinlicher wurde.

Das Glück des Standfesten

Aber ich hatte mich in meinem Freund getäuscht. Er, um dessen Leben es ging, weigerte sich, auch nur einen Cent zu zahlen, und wollte auch von mir keine Hilfe. Und hatte schließlich Erfolg: Nach zehn Monaten kam die Nachricht von der Versicherung, dass sie die Kosten übernimmt. Die Operation gelang. Er hatte gewonnen, nachdem er zehn Monate lang mit dem eigenen Leben Russisch Roulette gespielt hatte. Sein Motiv? Stolz und Rechtsempfinden. Hier gab es nicht einmal das Problem einer Warteliste, an der man sich vorbeimogeln konnte. Es gab nur eine Kommission, die bestochen werden wollte und ihn mit seinem eigenen Leben zu erpressen suchte. Dem wollte er sich nicht beugen und setzte dafür alles aufs Spiel.

Die Moral der Geschichte? Sie ist weder einfach noch klar. Zunächst zeigt sie nur, dass zur Korruption auch die vermeintlichen Opfer gehören, die mitspielen, obwohl sie sich weigern könnten. Wenn die „Repubblica“ am 7. April reißerisch titelte „Wartelisten: 2 Millionen müssen Schmiergeld zahlen“, unterschlug sie diese Hälfte der Wahrheit. Ist aber mein bosnischer Freund ein Vorbild dafür, wie man sich in solchen Fällen verhalten sollte? Denn er hatte ja einfach Glück, als er es riskierte, seinen Grundsätzen treu zu bleiben. Und überlebte.

Unter den Italienern und Italienerinnen, die „mazzette“ bezahlen, um die Wartelisten zu überspringen, mögen einige in einer ähnlichen Notsituation stecken wie damals mein bosnischer Freund. In anderen Fällen tragen sie mit ihren Schmiergeldern zum Entstehen einer neuen Unterschicht bei. Wie in Deutschland gibt es auch in Italien längst die Trennung von Kassen- und Privatpatienten. Aber in Italien bildet sich im Gesundheitswesen unter der zweiten Klasse nun auch wieder eine dritte heraus. Es ist die Klasse derer, die als letzte drankommen. Und an denen die aus der zweiten Klasse mit den „mazzette“ in der Hand elegant vorbeiziehen.