Placebo fürs Volk

„Der Straftatbestand der illegalen Immigration ist nicht nur wirkungslos, sondern sogar schädlich, weil es dazu führt, dass Einwanderer, als potentielle Angeklagte, bei Vernehmungen von dem Recht Gebrauch machen können, zu schweigen, was das Vorgehen gegen die Schlepper erschwert“. Der größte Effekt der Regelung bestehe darin, dass die bereits überlasteten Gerichte durch solche nutzlosen Strafverfahren zusätzlich in ihrer Arbeit behindert würden. Das sagt kein Geringerer als der Nationale Staatsanwalt gegen Mafia und Terrorismus, Franco Roberti.

Staatsanwalt Franco Roberti

Staatsanwalt Franco Roberti

2002 erließ die Berlusconi-Regierung das – nach den Erstunterzeichnern genannte – „Bossi-Fini-Gesetz“, das eine Reihe umstrittener Bestimmungen zur Einwanderung enthält. Eine davon mit mörderischer Wirkung: Jeder, der Einwanderern bei ihrer Einreise zur Hilfe kommt, kann wegen Schleppertums und Beihilfe zu illegaler Einwanderung zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt werden. Das gilt auch für diejenigen, die ertrinkende Flüchtlinge ins eigene Boot holen und an Land bringen. Die Katastrophe, die sich im Oktober 2013 vor Lampedusa ereignete, wäre wohl glimpflicher verlaufen, wenn einige der vorbeifahrenden Fischerboote nicht Angst davor gehabt hätten, sich mit einem Rettungseinsatz strafbar zu machen.

Geschichte eines Straftatbestandes

2009 wurde das Bossi-Fini-Gesetz um den Straftatbestand des „illegalen Betretens und illegalen Aufenthaltes im Staatsgebiet“ ergänzt, zu ahnden mit Geldstrafen von 5.000 bis 10.000 Euro (Art. 10b). Juristen und Experten sind sich darin einig, dass diese Regelung – von verfassungsrechtlichen Bedenken abgesehen – ihr Ziel verfehlt hat. Weder hat sie dazu beigetragen, die Einwanderer vom Versuch einer Einreise abzuschrecken, noch konnten meist die Geldstrafen vollzogen werden, weil die Betroffenen mittellos sind. Überflüssig ist ein solcher zusätzlicher „Straftatbestand“ auch, weil Einwanderern, die sich illegal in Italien aufhalten, ohnehin die Abschiebung droht, also das Einzige, was sie wirklich fürchten (auch wenn es, typisch für Italien, ebenfalls meist nicht umgesetzt wird). Tatsächlich liegt der eigentliche Sinn des Art. 10b im politischen „Signal“ und dem Schein von Aktionismus. Nach dem Motto: „Seht her, die Regierung tut was!“.

Es war richtig und überfällig, dass in April 2014 die beiden Kammern des Parlaments ein Gesetz verabschiedeten, das die (inzwischen von der PD geführte) Regierung bevollmächtigte, zumindest den Artikel 10b aus der Welt zu schaffen. Im November vergangenen Jahres stimmten endlich die zuständigen Ausschüsse in Abgeordnetenkammer und Senat dem entsprechenden Gesetzesdekret zu, damit es Mitte Januar vom Kabinett verabschiedet werden konnte.

Wie sicher ist gefühlte Sicherheit?

Dann kamen in mehreren Ländern die islamistischen Terrorangriffe und die sexuellen Gewaltattacken in Köln und anderswo. Die wachsende Angst von Bürgern und Regierenden führte zu einem Wendepunkt in der Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik, bei der Sicherheit – ob real oder nur „gefühlt“ – die oberste Maxime ist. Und damit bekam auch die Diskussion über die anstehende Abschaffung des Straftatbestandes illegale Einwanderung eine neue Schärfe. Vor allem der Lega-Führer Salvini rief nach Barrikaden, „um diese Wahnsinnigen (gemeint ist die Regierung, MH) zu stoppen“, wobei ihm seine Juniorpartner Forza Italia und Fratelli d‘ Italia sekundierten.

Doch auch Innenminister Alfano (Nuovo Centrodestra), der noch im letzten Jahr die Abschaffung auf die Tagesordnung setzte, meint nun – von der eigenen Courage erschreckt -, ein solcher Schritt dürfe nicht vollzogen werden, weil er „das völlig falsche Signal“ sei. Und begründet dies reichlich gewunden so: „Ich bin mir zwar der vielen fachkundigen Meinungen bewusst, die aus technischer Sicht überzeugende Argumente für eine Abschaffung vorbringen, aber aus evidenten Gründen der Opportunität werde ich von dem Dekret … absehen, um an die öffentliche Meinung keine Botschaft zu senden, die sich in diesem für Italien und Europa besonderen Moment negativ auf das Sicherheitsgefühl auswirken könnte“. Worin das Bekenntnis steckt, dass es ihm dabei nicht um die Sicherheit geht, sondern um das Sicherheitsgefühl. Ein Placebo, das beim verängstigten Volk kaum die Krankheit kurieren wird, aber hoffentlich zumindest die Symptome verschwinden lässt.

Wettstreit der Getriebenen

Die Regierenden in Italien, wie in Deutschland und anderen Ländern Europas, sind derzeit Getriebene. Von der terroristischen Barbarei der Islamisten, von der kriminellen Gewalt rassistischer rechtsextremer Gruppen und nun auch noch von brutalen Angriffen einiger Einwanderer und Flüchtlinge gegen Frauen. Getrieben auch von einem immer stärker werdenden demokratie- und fremdenfeindlichen Rechtspopulismus, der die Werte und das innereuropäische Zusammenleben bedroht. Die Versuchung ist groß, nicht nach gemeinsamen europäischen Antworten zu suchen, die alle Gewalttaten konsequent ahnden, aber dabei auch die demokratischen Grundwerte und Menschenrechte einhalten. Sondern stattdessen in einen Wettstreit von kurzatmigem Aktionismus, Symbolhandlungen und Abschottungsversuchen einzutreten, die ebenso inhuman wie hilflos sind.

In diesen Zusammenhang gehört auch die absurde Debatte um den Artikel 10b des Bossi-Fini-Gesetzes. Renzi, der etwas gescheiter ist als sein Innenminister, hat versucht, die Aufschiebung des Gesetzesdekrets plausibler zu begründen: „Der Straftatbestand der illegalen Einwanderung ist nutzlos und gehört abgeschafft, allerdings im Kontext eines Gesamtpakets .., wozu die Beschleunigung der Abschiebeverfahren und schärfere Bestimmungen gegen Straftäter gehören. Wir arbeiten daran und brauchen dafür noch etwas Zeit“, erklärte er vor einigen Tagen im Fernsehen.

Repression reicht nicht

Ähnliches kündigt seine Kollegin Merkel in Deutschland an, die unter einem ähnlichen Druck von Rechts steht und langsam von ihrer „Wir schaffen das“-Botschaft abrückt. Eine ernsthafte Debatte, wie es über die Repression hinaus gelingen kann, den Einwanderern und Flüchtlingen die hier geltenden Grundwerten zu vermitteln, steht noch aus, in Deutschland und erst recht in Italien. Man könnte sich z. B. überlegen, mehr als bisher Menschen aus den Herkunftsländern in den Flüchtlingsheimen und bei Integrationskursen als sprachliche und kulturelle „Mittler“ einzubeziehen, möglichst auch bei den Polizei- und Justizbehörden. Doch so etwas gilt derzeit auf politischer Ebene wohl als papperlapapp. Der Wind weht anders. Hier der neueste Vorschlag von CSU-Generalsekretär Scheuer: Flüchtlinge, die einer Straftat verdächtigt werden, sofort ohne Prozess abschieben. Das rechtsstaatliche Grundprinzip der Unschuldsvermutung würde nicht mehr gelten. Das ist eklatant grundgesetzwidrig, aber was macht das schon. Hauptsache, es beruhigt das Sicherheitsgefühl der Bürger. Und bringt Wählerstimmen.

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