Schock-Urteil im Eternit-Prozess

Im überfüllten römischen Gerichtssaal bricht nach der Urteilsverkündung Wut und Verzweiflung aus: Erkrankte, Verwandte von Asbestopfern, Vertreter von über 6000 Zivilklägern sind fassungslos, schreien „Schande! Mörder!“, brechen in Tränen aus. „Das ist einfach nicht möglich! Unsere Lieben sind wegen des Asbests gestorben und sterben weiterhin, jede Woche müssen wir noch weitere Opfer begraben, das letzte war vor ein paar Tagen eine 28-jährige Frau! Wie kann ein solches endloses Sterben verjähren?“

Im Gerichtssaal

Im Gerichtssaal

Das Kassationsgericht hob am 19. November die Verurteilung des damaligen Eternit-Managers und Schweizer Multimilliardärs Stephan Schmidheiny zu 18 Jahren Haft wegen vorsätzlicher Verursachung einer Umweltkatastrophe auf. Die Tat sei verjährt.

Die Asbestfabrik „Eternit“ begann 1906 an vier italienischen Standorten mit der Produktion: in Casale Monferrato und Cavagnolo in Piemont, in Rubiera in Reggio-Emilia und in Bagnoli in Kampanien. Schon in den 50er Jahren gab es Erkenntnisse über die krebserregende Wirkung von Asbest. Erst 1986 schloss das Unternehmen seine Tore, 1992 wurde Asbest offiziell verboten.

„Umweltkatastrophe vorsätzlich herbeigeführt“

Erst nach 20-jährigen Ermittlungen schaffte es der Turiner Staatsanwalt Raffaele Guariniello, gegen Schmidheiny ein Strafverfahren zu eröffnen. Er wurde angeklagt, eine Umweltkatastrophe vorsätzlich herbeigeführt und Maßnahmen zum Schutz der Belegschaft bewusst verhindert zu haben. „Jeglicher Zusammenhang zwischen Asbest und Tumorerkrankungen ist zu bestreiten“, lautete eine von vielen detaillierten Anweisungen in dem von der Unternehmensleitung herausgegebenen „Wegweiser“ von 1976, der nach einer „Fortbildungsveranstaltung“ im deutschen Neuss mit allen weltweit agierenden Niederlassungen erarbeitet wurde.

Schmidheiny wird in zwei Instanzen verurteilt. Er geht in Revision und lässt sich in der Zwischenzeit als Umweltaktivist und Philantrop feiern, bekommt Preise und Funktionen, u. a. als Ehrenvorsitzender der UNO-Einrichtung „World business council for sustainable development“, wird Berater Clintons und vertritt 1992 die UNO auf der internationalen Umweltkonferenz in Rio. Und hat nun mit der Revision Erfolg.

Asbest tötet weiter

Währenddessen geht das Sterben in Casale Monferrato und den anderen Eternit-Standorten weiter. Erst bei ehemaligen Arbeitern, dann auch bei ihren Verwandten und anderen, die mit dem tödlichen Pulver in Kontakt kommen. „Meine Schwägerin ist mit 55 Jahren gestorben, sie hat unvorstellbar gelitten, und das nur, weil sie die mit Asbestpulver verseuchten Arbeitsanzüge ihres Mannes wusch“, sagt eine Bewohnerin von Casale Monferrato den Journalisten. Oft dauert es Jahre, manchmal Jahrzehnte, bis die Krankheit mit dem unaussprechlichen Namen „Pleuramesotheliom“ offen ausbricht. Ärztliche Gutachter erwarten die „Spitze“ der Asbesterkrankungen erst für das Jahr 2020. Nach dem Auftreten der ersten manifesten Symptome geht es allerdings schnell: Im Durchschnitt vergehen 300 Tage bis zum tödlichen Ausgang. „Der Krebs ist wie ein Schuss, der dich erst nach 30 Jahren ins Herz trifft“, sagt ein Erkrankter.

Doch die Tatsache, dass die Erkrankungen nachweislich auf die Asbestproduktion zurückzuführen sind, spielt für das Kassationsgericht rechtlich keine Rolle. Die Straftat, für die Schmidheiny verantwortlich zu machen ist, endete für die Richter im Jahr 1986 mit der Schließung von Eternit. Somit sei sie verjährt, unabhängig von ihren Spätfolgen.

Recht und Gerechtigkeit

„Zwischen Recht und Gerechtigkeit muss der Richter sich immer für das Recht entscheiden“ kommentierte nicht ohne Bitternis der Generalstaatsanwalt, der beim Kassationsverfahren die Anklage vertrat. Was aber muss geschehen, damit Recht und Gerechtigkeit nicht so eklatant in Widerspruch geraten wie in diesem Fall?

Eine erste Antwort gab Staatsanwalt Guariniello: Er versprach Betroffenen und Angehörigen, gegen Schmidheiny ein neues Strafverfahren einzuleiten. Diesmal soll die Anklage lauten: vorsätzliche Tötung in über 200 Fällen, für die er meint, genügend Beweismaterial zu haben. Ministerpräsident Renzi kündigte an, dass die italienische Regierung in einem solchen neuen Strafverfahren als ziviler Nebenkläger auftreten wird.

Die zweite Antwort kommt von Juristen, Politikern und Gewerkschaftern: Sie fordern eine rasche Änderung der Verjährungsfristen, die nicht nur im Eternit-Fall zu absurden Urteilen führten. Die geltenden Regelungen gehen auf ein Gesetz aus der Zeit des Faschismus zurück, wurden aber von der Berlusconi-Regierung noch weiter verschlimmert. Mit ihnen wurde erreicht, dass gerade bei langwierigen und komplexen Verfahren, zu denen bei umweltrelevanten Straftaten kommt, die Unternehmen dank günstiger Verjährungsfristen straffrei bleiben.

Schmidheiny hat gute Aussichten, ungeschoren davon zu kommen. Seine Verteidiger erklärten bereits, ein neues Verfahren sei unzulässig, weil man ihren Mandanten nicht zweimal wegen der gleichen Tat anklagen dürfe. Und eine Änderung der Verjährungsregelung könnte im Morast des politischen Kuhhandels zwischen der Renzi-Regierung und den rechten Parteien untergehen.

Es sieht also schlecht damit aus, dass den Asbestopfern und ihre Angehörigen noch Gerechtigkeit widerfährt Sogar die finanziellen Entschädigungen, die ihnen noch in erster und zweiter Instanz zugesprochen worden waren, sind durch das Kassationsurteil hinfällig geworden.

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