Mose und seine Brüder

Unterhaltsam ist’s, den Wespen zuzuschauen, wenn beim Frühstück im Freien eine Scheibe Schinken auf dem Teller liegt. Der Geruch zieht sie an, und mit den kleinen Werkzeugen, die ihnen die Natur gab, machen sie sich sofort an die Arbeit, um sich ihr Stückchen abzusägen. Unter italienischen Geschäftsleuten, Politikern und Verwaltern gibt es eine ähnliche Spezies – was sie magisch anzieht, sind öffentliche Aufträge. Großprojekte unter Termindruck, bei denen viel Geld im Spiel ist, das ist ihr Lieblingsschinken. Während aber Wespen nur einzeln ans Werk gehen, bildet die menschliche Spezies große Seilschaften, die beim gemeinsamen Aussägen riesiger Stücke erstaunliche Effizienz entwickeln.

Mose: Die Objekte der Begierde

Mose: Die Objekte der Begierde

Das Grundschema der Korruption

Es ist einfach. Erstens, natürlich, die Interessenten an öffentlichen Aufträgen. Zweitens Politiker und Verwaltungsfunktionäre, die über die Auftragsvergabe entscheiden Drittens diejenigen, die vom Staat mit Kontrollaufgaben betraut wurden – gerade bei ihnen sollte man niemanden übergehen. Für die Politiker und Kontrolleure gibt es „Tangenti“, entweder ganz archaisch mit gefüllten Briefumschlägen („mazzette“, ihr Vorteil ist die schwere Nachweisbarkeit, aber Achtung bei der Übergabe!), oder „Spenden für den nächsten Wahlkampf“. Das Schöne: Niemand zahlt einen Cent. Man bläht nur die Rechnungen auf, um von der Staatsknete die „Tangenti“ abzuzweigen. Mit den nötigen Beziehungen kann man aus Nichts Geld machen.

Korruption um öffentliche Aufträge gibt es überall. In Italien hat sie eine besondere Tradition, was nicht nur an der Mafia, sondern auch an der Rolle des italienischen Staates in der Wirtschaft liegt. Es begann mit dem „Klientelismus“ der DC. Der Bau der Autobahn Salerno – Reggio Calabria begann 1964, vor genau 50 Jahren. Sie ist bis heute Baustelle, und alle Welt weiß, dass die `Ndrangheta immer mitverdient. Zu Beginn der 90er Jahre brachte Tangentopoli das ganze Parteiensystem zum Einsturz. Und machte paradoxerweise den Weg frei für den Mann, der mit „Notstandsprojekten“ und Gesetzen „ad personam“ die Korruption zur Staatsraison machte.

Der Skandal um die Expo …

Berlusconis Uhr scheint abgelaufen. Aber der Berlusconismus – die Bereitschaft, jede Gelegenheit zur Korruption zu nutzen – bleibt höchst lebendig. Kurz vor der Europawahl flog der Skandal um die Mailänder Expo 2015 auf. Dort ging es um Aufträge in zweistelliger Milliardenhöhe – nach den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft schickte die `Ndrangheta sogar einen Sondergesandten nach Mailand. Nach Mafia-Vorbild bildeten die interessierten Unternehmen eine „Kuppel“ („Cupola“), in die auch der Generaldirektor der Expo und der für die Auftragsvergabe zuständige Mann der Region Lombardei einbezogen wurde. Aufträge nur gegen „Tangenti“. Die Kuppel rühmte sich, „sozial“ zu sein: Sie habe im Normalfall nur 1 % des Auftragwerts verlangt, während doch 4 – 5 % „üblich“ seien.

… und um Venedigs „Mose“

Vor ein paar Tagen der zweite Paukenschlag. Venedig versinkt im Schlick der Lagune? Dagegen gibt es das Großprojekt „Modulo sperimentale elettromeccanico“, kurz „Mose“ (zu deutsch „Moses“ – der Pfiff sind die Abkürzungen). Technisch funktioniert es so: Ist Hochwasser im Anmarsch, wird aus großen auf dem Grund der Lagune befestigten Behältern Wasser herausgepumpt. Sie steigen an die Oberfläche und bilden eine Barriere gegen das heranströmende Wasser. Nutzen und Umweltverträglichkeit sind umstritten. Was unsere „Wespen“ interessiert, ist etwas anderes: Das 2003 begonnene Projekt verschlang bisher ca. 5,5 Milliarden €. Also, so das bisherige Ermittlungsergebnis, bildete man ein „Konsortium“, zu dem auch ein ehemaliger Präsident der Region Venetien, der aktuelle Vizepräsident und der Bürgermeister von Venedig gehörten. Und als Sahnehäubchen ein leibhaftiger ehemaliger General der Finanzpolizei (connections!). Die wichtigsten Entscheidungsträger bekamen „Stipendien“: der ehemalige Regionalpräsident einige Jahre lang 900 000 € pro anno (Gegenleistung: positive Stellungnahmen zu den Mose-Arbeiten), der Vizepräsident kassierte in 8 Jahren eine halbe Million, ebenso der Bürgermeister (für seinen Wahlkampf 2010).

Mitspieler: nicht nur Forza Italia

Manche der beteiligten Geschäftsleute stellen sich als Opfer hin: „Ich musste mitmachen, um an Aufträge zu kommen“. Aber wie der korrupte Politiker und Verwaltungsfunktionär Geschäftspartner sucht, die ihm „Tangenti“ bieten, so suchen diese Entscheidungsträger, welche die Hand aufhalten.

Und die „politischen“ Entscheidungsträger? Einige der wichtigsten Akteure der Expo-Kuppel und des Mose-Skandals sind FI-Politiker. Jeder weiß: Das sind die Bösen, bei ihnen hat das System. Aber leider gehören nicht nur sie dazu. Mitglied der Mailänder „Kuppel“ war auch Primo Greganti, der „Compagno G“, PD. Das Pfund, mit dem er wuchern kann, ist das von ihm repräsentierte Netz „roter“ Kooperativen. Schon zu Tangentopoli-Zeiten saß er wegen Korruption. Der Mose-Skandal brachte auch den venezianischen Bürgermeister Giorgio Orsoni in Hausarrest – die PD erklärte, dass er nicht „das Parteibuch“ habe, aber bei der letzten Gemeindewahl war er ihr Kandidat. Auch der Vizepräsident der Region Veneto, Giampietro Marchese, jetzt in Untersuchungshaft, ist ein PD-Mann. Da erinnert man sich an Filippo Penati, PD, den Erfinder des (korrupten) „Systems Sesto“, der sogar Bersanis Parteiseketariat leitete. Und an Francantonio Genovese, den früheren PD-Führer in Sizilien, der vor einigen Wochen wegen Korruption verhaftet wurde.

Die überfällige Selbstreinigung der PD

Grillo behauptet, PD sei gleich Forza Italia, Renzi gleich Berlusconi. Es ist und bleibt falsch. In der PD gibt es ein immer noch lebendiges Erbe moralischer Sauberkeit und Integrität. Trotzdem, und ohne den kommenden Gerichtsverfahren vorgreifen zu wollen: Teile von ihr sind korrupt – und der PD ist insgesamt vorzuwerfen, dem bisher nur nachlässig entgegengetreten zu sein. Wieso vertritt der vorbestrafte „Compagno G“ immer noch die „roten“ Kooperativen? In einer Partei mit alten Wurzeln (KPI, DC), mit festen lokalen Machtbasen und personellen Kontinuitäten bilden sich Seilschaften. Die Übergänge zur Korruption sind fließend. Trotzdem ist diese ein Krebsgeschwür, das nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Gesellschaft zerfrisst.

Renzi scheint nun endlich einschreiten zu wollen. Er ist Katholik, und Papst Francesco soll ihm gesagt haben, das größte Übel sei die Korruption. Er hat die Hebel, er ist Generalsekretär der PD. Er hat die Macht, hinter ihm stehen die große Mehrheit der eigenen Basis und 40 % der Wählerstimmen. Nicht die gesamte PD ist korrupt. Aber infiziert. Und die gesamte PD, mit Renzi an der Spitze, ist dafür verantwortlich, jetzt gegen die Infektionsherde vorzugehen.