Empörung und praktische Vernunft

Sie umarmen sich, die Augenhöhlen scheinen leer. Die Unterwasser-Fotos der Ertrunkenen vor Lampedusa, die vor einigen Wochen durch die Presse gingen, lösten Entsetzen aus, weil sie nicht nur die Toten zeigen, sondern auch die Anonymität, in die sie versinken. In die Europa sie versinken lässt, in Massengräbern wie dem Mittelmeer.

Was die Fotos auslösen, ist Entsetzen, Empörung, Schuldgefühl. Aber wir sind erwachsen und haben gelernt, unsere Reaktionen einzugrenzen, den Umständen anzupassen: Empörung sonntags, praktische Vernunft dienstags. So braucht sich die Empörung nicht auf die „Mühen der Ebene“ einzulassen und bleibt rein. Unsere pluralistische und ach so meinungsfreie Gesellschaft hat Nischen für alle Arten von Empörung. Und hält sie sich damit vom Leibe.

„Nehmen wir sie alle auf“

Anfang Mai hatten wir in Rom eine überraschende Begegnung. Bei einem Spaziergang durch das Zentrum stießen wir auf eine Veranstaltung, in der ein Buch von Luigi Manconi und Valentina Brinis präsentiert wurde, Titel „Nehmen wir sie alle auf“, („Accogliamoli tutti“), Untertitel „Ein vernünftiger Vorschlag zur Rettung Italiens, der Italiener und Immigranten“. Das Buch präsentiert eine Fülle von Beispielen dafür, wie sich Immigranten in den Lücken und Spalten der vergreisenden Welfare-Gesellschaften einnisten, auch in Italien. In Gestalt philippinischer und rumänischer „Badanti“, die die individuelle Pflege der Alten übernehmen, von Arbeitern aus Indien und Bangladesh, die die Landwirtschaft am Leben erhalten, von Zuwanderern aus Albanien, Nahost und Afrika, die aussterbende Dörfer Apuliens wieder mit Leben erfüllen, von Immigranten-Kindern, die verhindern, dass auf dem Land aus „Mangel an Nachwuchs“ eine Schule nach der anderen geschlossen wird.

Prodi auf dem Podium

"Professore" Prodi

„Professore“ Prodi

Interessant war das Podium, welches das Buch präsentierte. Dort saß Romano Prodi, der ehemalige italienische Ministerpräsident, der 6 Jahre lang als UN-Beauftragter in Afrika tätig war und einen „integrierten“ Hilfsplan für die Sahel-Zone entwickelte. Ein „Professore“ der Ökonomie, der auch Praktiker ist. Und der sich trotz seines moralischen Engagements – als bekennender Katholik – jeder solidaristischen Rhetorik enthält, sondern von Fakten und Interessen redet: Dass wir in einer Welt der „totalen Migration“ leben, und „kein Land mehr ohne Immigration auskommt“. Schon allein deshalb, „weil es viele Arbeiten gibt, zu der unsere jungen Leute nicht mehr bereit sind“. „Wollen wir ein Land, das wirklich funktioniert, brauchen wir Immigration“. Nicht nur Edel-Immigranten, wie sie z.B. Deutschland – zögernd und unter Vorbehalten – anwerben will: Computer-Spezialisten aus Indien, Ingenieure aus Südeuropa. Sondern Allerwelts-Immigranten, die von selbst kommen.

Erstes Fazit: Wenn die Flüchtlinge vor den Küsten Europas ertrinken, ertrinkt dort auch unsere eigene Zukunft. Die soziale Demagogie fremdenfeindlicher Populisten („die wollen ja nur in unsere Sozialsysteme einwandern“) unterstellt, bei der Immigration handele es sich um ein Nullsummenspiel: Mit jedem Einwanderer verliere ein Einheimischer seine Arbeit. Es stimmt nicht, es hat noch nie gestimmt. Haben die Hugenotten, die nach Preußen flohen, haben die Polen, die ins Ruhrgebiet kamen, „Deutschen die Arbeitsplätze weggenommen“?

Immigration und Welfare

Die Lage ist allerdings komplizierter. Wir leben heute in einer Welfare-Gesellschaft, und viele „Allerwelts-Immigranten“ halten sich nicht an ihre Standards. Nicht aus Bosheit, sondern um zu überleben: Sie arbeiten schwarz, unter Tarif oder zu Bedingungen, die für Einheimische nicht mehr akzeptabel sind. Michael Walzer, ein „linksliberaler“ politischer Philosoph aus den USA, sieht darin auch das Problem. In der „Repubblica“ vom 1. Mai fragt er nach dem Schicksal der Welfare-Staaten im Sog der globalen Migration. Wo das Thema Menschenrechte immer dominanter wird und die soziale Solidarität der Staatsbürger in den Hintergrund tritt. „Den neuen Kampf um die Menschenrechte begleitet die politische Demobilisierung im eigenen Land“.

Cécile Kyenge

Cécile Kyenge

Walzer vermerkt mit Sorge, wie sich die Aktivisten eines neuen Internationalismus in Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen, Human Rights Watch, Amnesty International engagieren, aber nicht mehr im Kampf gegen die Ungleichheit im eigenen Land. Sie überlassen dieses Thema den Populisten, die es prompt gegen Minderheiten, Flüchtlinge und Migranten wenden. Walzer fordert beides: Solidarität gegenüber transnationalen Migranten und gegenüber den Opfern des Kapitalismus im eigenen Land. Zumal man auch hier gleich wieder auf die „Welt“ stoße, in Gestalt der Multis und internationalen Banken. Sein Fazit: „Den Westen rettet der Klassenkampf“.

Eine Aufgabe der Politik

Beim Versuch, beide Solidaritäten zu vereinbaren, beginnen die „Mühen der Ebene“. Die Immigration muss politisch reguliert, der Sumpf von Illegalität, Schwarzarbeit und Tariflosigkeit trocken gelegt werden – auch um den in Jahrhunderten erkämpften Welfare-Staat zu erhalten und auszubauen. Ohne aber damit Immigration zu ersticken. Der Königsweg zwischen beiden Anforderungen ist nicht einfach. Hier beginnt die Arbeit der Politik.

Cécile Kyenge, ehemals schwarze Ministerin der Regierung Letta, heute PD-Abgeordnete im Europarlament, schreibt in ihrem Vorwort zu „Accogliamoli tutti“:

„Wenn dahinter eine ernsthafte politische Absicht steht, kann die Immigration tatsächlich zu einer Chance für den Wiederaufstieg, für ein ‚Risorgimento’ werden. Dafür muss man allerdings mit der Vorstellung Schluss machen, die Decke sei zu kurz. Ihr Stoff muss gewebt werden, und wenn wir es gemeinsam tun, kann die Decke größer werden, als es jeder Einzelne von uns je für möglich gehalten hätte.“