Das Massengrab füllt sich weiter

Am 12. Mai meldeten die Zeitungen, dass im Mittelmeer vor der afrikanischen Küste wieder ein Flüchtlingsboot unterging. Es war auf dem Weg nach Italien. Eine erste Bilanz sprach von 36 Toten, die aus dem Meer geholt wurden, und 42 Vermissten. Darunter viele Kleinkinder. Dann die Meldung vom 13. Mai: Ein Großboot, in dem man nach ersten Meldungen 400 bis 500 Flüchtlinge unter unbeschreiblichen Bedingungen zusammengepfercht hatte, versank zwischen der libyischen Küste und Lampedusa. 17 Leichen, 206 gerettet, der Rest „vermisst“ – falls man von „vermisst“ reden kann, wenn unbekannt ist, wie viel es wirklich waren, weil niemand Buch führt und die meisten Toten in der Anonymität versinken.

Die Auffanglager in Sizilien

Ertrunkene Flüchtlinge vor Lampedusa

Ertrunkene Flüchtlinge vor Lampedusa

Die Schatten der Toten begleiten die Überlebenden. Aber der Migrationsdruck der Flüchtlinge aus Syrien und den Ländern südlich der Sahara lässt nicht nach. Seitdem das Auffanglager von Lampedusa geschlossen wurde, landen nun täglich Hunderte, an manchen Tagen auch Tausende an der Südküste Siziliens, die darauf nicht vorbereitet ist. Zunächst werden sie provisorisch in Zeltlager in Messina, Pozzallo und Augusta verfrachtet. Von dort sollen sie schnell weiter „verteilt“ werden, denn das Innenministerium gab die Parole aus, die Bildung ständiger Massenlager sei zu vermeiden. Mit Recht, sie sind schon jetzt völlig überbelegt (ein Lager, das auf eine maximale Kapazität von 178 ausgelegt ist, nimmt 500 auf), sondern auch fast ohne Infrastruktur: kein Wasser, keine Toiletten (gibt es doch eine, bilden sich davor riesige Schlangen). Dann kommt eine „Verteilung“, die das Problem nur verschiebt. Denn nun kommen die „Centri Accoglienza Straordinari“ (sog. Cas, Sonderaufnahmelager) ins Spiel. Der Staat zahlt den Betreibern pro Flüchtling täglich 35 €, da wittern manche das Geschäft. Also räumt man Platz in Familienhäusern, Bauernhöfen, Schulen, Konventen, Altersheimen. Und auch in psychiatrischen Anstalten. In der Provinz Siracusa wies man 100 Flüchtlinge in eine solche Anstalt ein. Mitten in der Nacht flüchteten sie halbnackt auf die Straße. Irgendetwas muss sie zu Tode erschreckt haben.

Ihr Ziel ist ganz Europa

Aber die Flüchtlinge sind nicht nur willenlose Objekte von Verwaltungsvorschriften oder humanitärer Zuwendung. Sie riskierten ihr Leben, um die italienische Küste zu erreichen, und haben Adressen und Telefonnummern von nahen oder entfernten Verwandten in der Tasche, in Frankreich, Deutschland, Skandinavien. Dort wollen sie hin, auch wenn sie von ihrem Ziel nur verschwommene Vorstellungen haben. Kaum jemand will in Italien bleiben. Dafür sind die Auffanglager eine Etappe, die sie so schnell wie möglich hinter sich bringen wollen. Sie wissen, dass sie bei der Registrierung tunlichst vermeiden müssen, sich ihre Fingerabdrücke nehmen zu lassen. Die Frauen im Lager haben einen Lack, den man sich auf die Fingerkuppen streicht, um die Abdrücke zu verwischen. Dann machen sie sich so schnell wie möglich auf den Weg – es ist leicht, die Lager zu verlassen. Auch viele unbegleitete Jugendliche sind dabei. Eine Schule in Augusta nahm 400 auf, von denen 300 noch in der gleichen Nacht verschwanden. Nur halb bekleidet, oft barfuß, mit einer Tafel Schokolade als Wegzehrung laufen sie auf dem Nothaltestreifen der Autobahn Richtung Norden, wo Tausende von Kilometern entfernt irgendwo ihr Ziel liegt. Journalisten fragen, woher sie den Mut nehmen. Antwort: „Wir sind auch durch die Wüste gelaufen“.

„Mare nostrum“ öffnete ein Ventil…

Es ist wahr, als Reaktion auf Lampedusa öffnete Italien ein Ventil. Im Rahmen der Operation „Mare Nostrum“ haben die Schnellboote der Küstenwache nun den Auftrag, Flüchtlinge nicht nur – wie früher – aufzubringen, sondern auch Schiffbrüchige zu retten. Die nordafrikanischen Schlepper stellten sich schnell darauf ein: Nun überlassen sie die Flüchtlinge in Sichtweite der italienischen Küstenwache ihrem Schicksal – in schon „abgeschriebenen“ Booten, die kurz vor dem Absaufen oder Kentern sind. So ist es zum neuen Job der Küstenwache geworden, die Flüchtlinge an Bord zu nehmen und in italienische Häfen zu geleiten. Der Zustrom aus Syrien und Zentralafrika schwillt immer weiter an. Die Sozialchauvinisten der Lega haben Aufwind: In Italien gebe es schon genug Arme, und „Mare Nostrum“ verhindere, sich um sie zu kümmern. Mit der impliziten Forderung, in die gute alte Frontex-Zeit zurückzukehren, die Toten vor Lampedusa inbegriffen.

… aber sonst bleibt alles beim Alten

Es ist wahr: „Mare Nostrum“ passt nicht zur europäischen Festungspolitik, aber es hebt sie auch nicht aus den Angeln. Die Flüchtlinge, die in die süditalienischen Häfen gebracht werden, fördern nun weitere Probleme ans Tageslicht. Zunächst: Wohin mit ihnen? Die Dublin-Regelung, nach der für die Flüchtlinge das europäische Land zuständig ist, das sie als erstes betreten, kollidiert nicht nur mit italienischem Schlendrian und den Wünschen der Flüchtlinge selbst. Seitdem der Zustrom wieder anschwillt, ist auch klar, dass diese Regelung eine schreiende Ungerechtigkeit enthält, weil sie Italien mit dieser Zuständigkeit allein lässt. Ganz Europa müsste zuständig sein. Aber dies betrifft nur die Überlebenden. Die Bürgermeisterin Nicolini von Lampedusa drängt mit Recht darauf, dass Europa „in den nordafrikanischen Transitländern Agenturen eröffnet, in denen die Migranten Asylanträge stellen können, bevor sie in die Boote steigen“.

Vor einigen Tagen fuhren wir von unserem Dorf hinunter ans Meer. Wir wanderten über den leeren Strand, beobachteten das Farbenspiel des Meeres, lauschten auf die Wellen und sahen den Strandläufern bei ihrem Trippeltanz zu. Wir waren fast allein – begegneten wir doch ein paar Menschen, wetteten wir auf Rentner aus Deutschland (wie wir). 500 Km weiter südlich werden an der gleichen Küste immer noch Leichen angeschwemmt.

Ein Strandweg war mit Holzbohlen ausgelegt, zwei Bangladeschi strichen sie mit einer Schutzfarbe an. Sie arbeiteten schnell, als wir zurückkamen, waren sie schon ein gutes Stück weitergekommen. Als wir wieder in unser Dorf zurückfuhren, überholten wir im Auto Sikhs, die mit ihren Turbanen kerzengrade auf uralten Fahrrädern saßen. Sie arbeiten als Halblegale in den Gewächshäusern. Erst waren es Albaner, dann Marokkaner, jetzt sind es Inder. Oder eben Sikhs. Ohne sie gäbe es hier schon keine Landwirtschaft mehr.

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