Das Meer zwischen uns

Die Geschichte ist ebenso einfach wie tragisch: Ein italienischer Fischkutter trifft auf offener See vor der afrikanischen Küste auf ein Schlauchboot voller Flüchtlinge, offenbar in Seenot, aber der Kapitän befiehlt, es gegen alles Seerecht seinem Schicksal zu überlassen. Schlimmer noch: Als es einem der Flüchtlinge gelingt, sich am Kutter festzuklammern, lässt er ihn trotz der Proteste seiner eigenen Seeleute ins Meer werfen. Der Mann ertrinkt vor den Augen aller.

Ein Schandfleck für Italien, erzählt von einem Vertreter des anderen Italiens, jenes Italiens der Solidarität und verteidigten Menschenrechte, dem jungen Reporter und Schriftsteller Gabriele del Grande, der kürzlich sein letztes Buch in einigen deutschen Städten vorstellte.

“Das Meer zwischen uns” ist mehr als eine Reportage über Flüchtlinge. Es ist das Ergebnis einer dreijährigen Recherche über die Orte, von denen aus sich Algerier und Tunesier, Libyer und Eritreer auf den Weg nach Europa machen. Es ist eine breitangelegte Reflexion über die tieferen Gründe und zufälligen Motive der Flüchtlinge, wobei er nicht nur die Zeugnisse derjenigen sammelte, die ihr Ziel erreichten, sondern auch der Familienangehörigen und Freunde derer auf der Flucht Ertrunkenen. Ein genauer und nüchterner, manchmal grausamer Bericht, wirkungsvoll und fesselnd zugleich.

Gabriele hat ungefähr das Alter meiner Kinder. Voller Leidenschaft legt er dar, dass er einfach nur die Geschichten von Männern und Frauen erzählen wollte. Um den Tausenden, die anonym im Mittelmeer ertranken, ihre Gesichter und ihre Namen, ihre individuellen und kollektiven Schicksale zurückzugeben. Gabriele prahlt nicht mit den Problemen seines Berufs und spricht auch nicht über die Gefahren, in die er dabei geriet. Während er erzählt, muss ich – als Vater – an seine Eltern denken, an ihre Sorge um seine Unversehrtheit, weil sie wussten, dass er dabei auch in Gefahr geriet. Er bereiste lange die Auswanderungsländer, erreichte mitten im Krieg Misurata per Schiff, war auf Lampedusa und verfolgte die Routen der mit Flüchtlingen beladenen Booten zurück. Um die Fakten zu verstehen, um die Betroffenen kennenzulernen. Aber vor allem, um besser zu verstehen, warum Tausende junger Afrikaner ihr Leben aufs Spiel setzen. Um die Grenze zu überwinden, die das Mittelmeer bildet, und Europa zu erreichen.

Er klagt auch die Instrumentalisierungen an, zu denen es in Italien allzu lange auf Kosten der Flüchtlinge durch das Schüren übertriebener Ängste gab. Wenn man ihm zuhört, erinnert man sich an den ehemaligen Innenminister Maroni, der nicht nur dazu aufrief, die Flüchtlinge “böse” zu behandeln, sondern auch den Straftatbestand “illegale Einwanderung” einführte und die Aufenthaltsdauer für “Illegale” in den Abschiebelagern erst von 30 auf 60 Tage, dann auf sechs und schließlich auf 18 Monate verlängerte. Es war vor allem die Lega Nord von Bossi, Maroni, Calderoli und Mauro, die gegen jede juristische Vernunft und ungeachtet der Lehren des großen Mailänder Juristen und Aufklärers Cesare Beccaria die Flüchtlinge kriminalisierte. Nicht etwa wenn diese irgendwelche ungesetzlichen Handlungen begingen, sondern allein schon weil sie um Asyl baten. Eine Feindseligkeit gegenüber den Flüchtlingen , die es vor zwanzig Jahre nur bei fremdenfeindlichen und rassistischen Randgruppen gab, machte die Lega zur Staatsraison.

Glücklicherweise gibt es auch ein anderes Italien, betont Gabriele. Ein Italien, das sich den Diskriminierungen und Ungerechtigkeiten entgegenstellt und sich mit dem tragischen Schicksal der Flüchtlinge identifiziert: die Seeleute, die gegen die Entscheidung des Kapitäns, den Flüchtling ins Meer zu werfen, protestierten und ihn dann auch anzeigten. Obwohl sie wussten, dadurch ihre Arbeit zu verlieren. Auch viele anderen Seeleute sizilianischer Fischerboote folgen ihrem Gewissen und der Seetradition und leisten den auf dem Meer und an den Küsten in Not geratenen Flüchtlingen sofortige Hilfe.

Gabriele del Grande, “Das Meer zwischen uns”, von Loeper Literaturverlag, ISBN 978-3-86059-525-1