Das Fest der Camorra
Der Ort ist Barra, ein Stadtteil von Neapel. Zeit: Sonntag, der 25. September 2011. Seit einigen Tagen läuft das Fest „Ballade der Lilien“, das zum ersten Mal vor etwas 100 Jahren gefeiert wurde und dem Heiligen Antonius gewidmet ist. Heute erreicht es seinen Höhepunkt, die Straßen sind voll, alles wartet auf die Eröffnung der Festlichkeiten. Bis langsam ein weißer Rolls Royce heranrollt. Die Menge jubelt und applaudiert, und während buntes Konfetti von den Balkonen regnet und irgendjemand die Tonspur aus Coppolas Mafia-Film „Der Pate“ abspielt (man erinnert sich: der mit Marlon Brando; schon Saviano berichtet, dass sich die Mafia gern in diesem Film spiegelt), steigt ER aus dem Rolls Royce, schüttelt Hände und gibt Auserwählten den symbolträchtigen Kuss auf den Mund. ER ist Angelo Cuccaro, der Camorra-Boss des Stadtteils, dessen Rückkehr aus zehnjährigem Knast schon vor einem Jahr bei gleicher Gelegenheit gefeiert wurde, mit dem Lied „’O Re“ (der König). Auch heute wird es wieder von der Menge gesungen, als ER erscheint.
Es war schon immer ein religiöses Fest. Es ist es immer noch. Die Camorra, die heute alles organisiert, legt darauf besonderen Wert. Und die Kirche spielt mit – zumindest hier. Vor einigen Tagen kam ein Gemeindepfarrer und segnete den riesigen hölzernen Obelisken, der extra für dieses Fest angefertigt wurde und jetzt durch die Straßen getragen wird.
Womit sich der Cuccaro-Clan sonst in diesem Stadtteil beschäftigt? Mit dem Üblichen: Er kontrolliert den Drogenmarkt, erpresst Geschäftsleute, manipuliert die Bautätigkeit, raubt Fernlaster aus. Aber heute ist Angelo Cuccaro in Feierlaune, er ist der Moderator, der jeden Einsatz gibt. Aber macht nicht nur auf gute Laune. Der Moment kommt, wo er von der Tribüne aus die feiernde Menge zu „einer Schweigeminute für unsere Toten“ auffordert. Die Menschen folgen ihm: Sie schweigen. Jeder denkt an die Verstorbenen in seiner Familie. Jeder denkt aber auch an die Toten, welche der Bandenkrieg im letzten Jahr den Cuccaro-Clan kostete. So erreicht er, dass es nicht nur die Angst ist, die die Menschen von Barra an die Camorra schweißt, sondern auch das Band der Toten.
Währenddessen fließt in anderen Stadtteilen Blut, auch an diesem Sonntag. Ein Mann wird hingerichtet. Für die Polizei, die ihn als Ciro Nocerino identifiziert und 20 Kugeln aus seinem Körper holt, ist es eine Auseinandersetzung zwischen rivalisierenden Banden. Auch für ihn wird es irgendwo, irgendwann, von irgendwem eine Schweigeminute geben.
Dies alles geschieht im Jahr 2011, am letzten Sonntag im September. In der Stadt, in der im Frühling eine überwältigende Mehrheit einen Mann zum Bürgermeister wählte, der ihnen versprach, mit der Camorra aufzuräumen. Und der jetzt verlauten ließ, er wolle das Fest beim nächsten Mal verbieten lassen. Man kann zweifeln, ob das im Kampf um die Köpfe und Herzen der Neapolitaner klug wäre. Aber er muss demonstrieren, dass er nicht zurückweicht. Es zeigt, wie schwer und zwiespältig in dieser Stadt der Kampf gegen die Camorra ist.
Bruder Ricca – der Pfarrer der Kirche St. Antonio, dem das Fest gewidmet ist – rechtfertigt den kirchlichen Segen so:
„Ich denke, dass dieses Fest von einem guten Prinzip ausgeht. Der Segen war der traditionelle, und aus meiner Sicht kam die Bevölkerung von Barra, um den Heiligen Antonius zu feiern. Von den anderen Problemen weiß ich wirklich nichts. Wenn stimmt, was Sie sagen, dann haben sie unseren guten Glauben hoffentlich nicht ergaunert.“
PS: Auf der Website der italienischen Wochenzeitschrift „Espresso“ kann man zurzeit ein Video über das Fest anklicken, samt Auftritt von Angelo Cuccaro und seinen Leuten.