Mahnrede des Staatspräsidenten

Staatspräsident Napolitano hat am 21. August auf dem „Meeting für die Völkerfreundschaft“ der katholischen Organisation „Comunione e liberazione“ in Rimini eine viel beachtete Rede gehalten, die von den Anwesenden – hauptsächlich Jugendlichen – mit standing ovations bejubelt wurde.
Wir dokumentieren hier einige Passagen, die auf die aktuelle Situation Italiens in der Finanzkrise und auf die politischen Reaktionen eingehen. Und die gleichzeitig zeigen, wie „politisch“ der Staatspräsident in der gegenwärtigen Situation – notgedrungen – agiert.

„Vor so beunruhigenden Entwicklungen, vor so gravierenden Krisen, muss man – das will ich gerade hier heute vor jungen Menschen unterstreichen – die Sprache der Wahrheit sprechen. Denn diese führt nicht zu Pessimismus, sondern fordert dazu heraus, mit Mut und Weitsicht zu reagieren. Haben wir hier, in Italien, in den vergangenen drei Jahren die Sprache der Wahrheit gesprochen? Haben wir es genug getan, wir alle, die wir Verantwortung in den Institutionen, in der Gesellschaft, in den Familien …tragen?… Vertrauen schaffen heißt nicht, Illusionen zu verbreiten; man schafft kein Vertrauen…, wenn man reale kritische Entwicklungen herunterspielt oder bagatellisiert, sondern nur, wenn man ihnen mit Intelligenz und Mut begegnet…“

Die Rüge gilt B. und seinem Finanzminister Tremonti, die zunächst behaupteten, es gäbe gar keine Krise; später hieß es, die Krise gäbe es schon, aber nicht in Italien, dem es besser gehe als den meisten europäischen Ländern, es bestehe also kein Handlungsbedarf. Das behauptete B. im Parlament noch ein paar Tage, bevor der „Brief aus Frankfurt“ eintraf, in dem die EZB Italien ultimativ zu harten Sparmaßnahmen aufforderte.

„Die Schwierigkeiten sind sehr ernst, komplex und in vielerlei Hinsicht nicht neu, sie kommen aus dem Inneren unserer nationalen und republikanischen Geschichte. Zu ihnen führt uns die aktuelle Krise zurück, in ihr verquicken sich Probleme, die wir schön längst hätten angehen müssen, mit tiefen Veränderungen und Umwälzungen auf globaler Ebene …Wie kann es sein, dass gezögert wurde, den Ernst unserer Lage und die reale Schwere der Probleme anzuerkennen, weil die Mehrheitsparteien und die Regierung nur die Sorge beherrschte, die Güte des eigenen Handelns herauszustreichen, auch mit Hilfe propagandistischer Vereinfachungen und tröstender Vergleiche mit anderen europäischen Ländern? Wie kann es sein, dass seitens der Oppositionsparteien die ganze Verantwortung für die aktuelle Krise des Landes nur den Fehlern und Unterlassungen der jetzigen Regierung, ihrer Führung und der sie stützenden Koalition zugeschrieben wurde? Auf diesem Weg konnte man nicht weit kommen, und man kam auch nicht weit. Wir brauchen mehr Objektivität bei den Analysen, mehr Augenmaß bei den Wertungen, mehr Öffnung und Toleranz gegenüber kritischen Stimmen und Andersdenkenden…“

In seiner Kritik an der Regierung nimmt der Staatspräsident also kein Blatt vor den Mund, aber er erinnert auch die Opposition daran, dass die enorme Staatsverschuldung nicht allein auf die Politik B.s und seiner Koalition zurückzuführen ist: Sie hat eine lange Geschichte, die bis in die 80er zurückgeht und an der auch Mittelinks-Koalitionen – von einigen Vorstößen der Prodi-Regierung abgesehen – beteiligt waren

„Seit zwanzig Jahren …schaffen wir es nicht, die Staatsverschuldung wirksam einzudämmen. Das Wachstum hat sich bis zur Stagnation verlangsamt, die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft in einer globalisierten und … tief veränderten Welt leidet unter dem Rückgang der Produktivität. …Es ist unbestreitbar, dass das Ungleichgewicht zwischen dem italienischen Norden und Süden nach wie vor eine tiefe Wunde ist, deren Heilung nie wirksam in Angriff genommen wurde; und es ist eine Tatsache, dass seit zwei Jahrzehnten die Ungleichheit in der Einkommensverteilung zugenommen hat… Eine wirkliche Wende ist vonnöten: um das Wachstum des ganzen Landes zu fördern, des Nordens wie des Südens, gemeinsam. Ein Wachstum, das weniger Ungleichheit bringt und eine größere Gerechtigkeit bei der Einkommensverteilung garantiert. Ein Wachstum, das von neuen Vorstellungen und Maßstäben für das, was Fortschritt bedeutet, geleitet wird…“

Womit der Staatspräsident den Finger in die Wunde des aktuellen Sanierungsplans von B. und Tremonti legt, dem diese Seite vollkommen fehlt. Alle haben sich natürlich beeilt, dem außerordentlich populären Staatspräsidenten beizupflichten und seine Rede zu loben. In Wahrheit wächst auf Regierungsseite, insbesondere bei B., der Unmut gegen Napolitano, dessen politisches Gewicht mit der schwindenden Glaubwürdigkeit der Regierung stetig zunimmt.

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