Kernkraft im Erdbebengebiet

Ein Jahr nach Tschernobyl, also 1987, kam es in Italien zu einem Referendum über die Kernenergie, bei dem sich über 70 % gegen sie aussprachen. Worauf die italienische Regierung drei damals laufende Kernkraftwerke stilllegte und auf den geplanten Bau eines vierten verzichtete. Danach tat sich in Sachen Kernenergie über 20 Jahre lang nichts. Stattdessen setzte sich der Zug – langsam – in Richtung Erneuerbare Energien („Rinnovabili“) in Bewegung, mit ähnlichen Anreizsystemen wie bei uns. Der deutsche Tourist, der sich heute in die Abbruzzen verirrt, fühlt sich fast wie zu Hause, wenn er in den kahlen Bergen auf riesige Windparks stößt, die sich mit bedächtiger Majestät im Winde drehen. Aber auch die Photovoltaik, für die es in Italien günstigere Bedingungen gibt als in Deutschland, hatte ihren Aufschwung. Ihr Anteil am italienischen Energiebedarf soll schon bei 2,5 % liegen.

Bis Berlusconi nach seiner Wiederwahl im Jahre 2008 die Absicht verkündete, endlich zur Kernenergie zurückzukehren. Nun ist er konkreter geworden: Bis zum Jahr 2030 sind 13 neue KKWs geplant, mit denen 25 % des italienischen Energiebedarfs abgedeckt werden sollen. Zunächst sollen gemeinsam mit der französischen Edf vier KKWs gebaut werden, für die gerade die Standortsuche begonnen hat. Flankierend gab die Regierung bekannt, ab sofort die Subventionierung der Erneuerbaren Energien drastisch abzusenken. Paolo Romani, Bankrotteur in B.s Diensten und frisch ernannter Minister für wirtschaftliche Entwicklung, verhehlte nicht, dass sich diese Maßnahme direkt gegen die „Rinnovabili“ richtet. Mit der Photovoltaik würden kriminelle Geschäfte gemacht (für B. eigentlich eine Empfehlung), es vermindere landwirtschaftlich nutzbare Flächen. Und auch die teuren Stromrechnungen lägen an den Subventionen für die „Erneuerbaren“.

Nun ist es in den Reaktorblöcken von Fukushima zur Katastrophe gekommen – aufgrund eines Erdbebens (samt Tsunami), dessen Stärke alle Erwartungen übertraf. Als Italiener muss man schon taub, blind oder ganz besonders dickfellig sein, um nicht ins Grübeln zu kommen. Auch in Italien stoßen Kontinentalplatten aufeinander, auch hier ist Erdbebengebiet. Aquila, das immer noch in Trümmern liegt, wurde gerade von einem neuen starken Beben heimgesucht. Zunächst versuchten B.s Minister, die aufkommende Diskussion im Keim zu ersticken. Minister Romani erklärte eilig, ein Zurück sei „unvorstellbar“, und B.s Umweltministerin sekundierte, es sei „unanständig“, aus dem japanischen Unglück Rückschlüsse auf die italienischen Atompläne zu ziehen. Und dann die übliche Geisterbeschwörung: Die neuen KKWs, die Italien installieren will, seien „hundertmal“ sicherer als die japanischen, Italien sei „tausendmal weniger Erdbebengebiet“.

Inzwischen scheinen selbst B. Zweifel gekommen zu sein, ob die Bevölkerung Italiens solche Denkverbote befolgt. Am 12. Juni (Pfingsten) steht ein neues Referendum über die italienischen Atompläne an, für das schon vor Fukushima mehr als eine halbe Million Unterschriften zusammen kamen. Gleichzeitig wird über das ebenfalls „von unten“ durchgesetzte Referendum gegen die Privatisierung des Wassers abgestimmt. Und bei der Gelegenheit steht auch eine Abstimmung über die „Legitime Verhinderung“ an, die B. besonders am Herzen liegt. Bis Fukushima verbreitete die Regierung noch die Parole, man solle zu Pfingsten lieber „ans Meer“ fahren – in der Hoffnung, dass die Referenden nicht die nötigen Quoren erreichen würden. Jetzt befürchtet sie, dass es gerade das Thema Kernenergie ist, das die Menschen in die Abstimmungslokale treibt. So ist sie in den letzten Tagen dazu übergegangen, erst einmal zu beschwichtigen: Man wolle ja alles noch mit der EU absprechen, erst einmal müssten mit den Regionen die Standorte gefunden werden, usw. Es wird sich zeigen, ob B. hier nur auf Zeit spielt. Wie es sich übrigens auch noch bei anderen europäischen Regierungen zeigen wird.

Nachtrag. Interessant sind auch die wirtschaftlichen Interessen, die hinter den italienischen Atomplänen stehen und auf die jetzt von Wikileaks veröffentlichte Geheimkabel, die von der amerikanischen Botschaft in Rom nach Washington gingen, ein Licht werfen. Danach wussten die Amerikaner seit 2005, dass B. den Wiedereinstieg Italiens in die Atomenergie plant. Da Italien die neuen AKWs irgendwo kaufen musste, ging es um ein großes Geschäft, dessen Volumen zunächst auf etwas 24 Mrd. € geschätzt wurde. Ein Kuchen, um den hinter den Kulissen sofort ein heftiger Kampf entbrannte, und zwar in erster Linie zwischen der französischen Regierung, die ihren Produzenten Areva, und der amerikanischen Regierung, die „ihre“ Firmen Westinghouse und General Electric favorisierte. Der Kampf endete mit der Vergabe des Auftrags für die ersten 4 AKWs an die französische Areva – in den Kabeln der US-Botschaft wird der Verdacht geäußert, dass dies auf massive Bestechung der zuständigen Funktionäre im italienischen Wirtschaftsministerium zurückzuführen sei. Wenn dies wahr wäre – es wäre überraschend, wenn es nicht so wäre -, die italienische Regierung aber jetzt aus politischer Opportunität ihre Atompläne auf Eis legt, hätte sie ein Problem. Denn es hätte eine Bestechung ohne entsprechende Gegenleistung gegeben. Was die Frage aufwirft, ob sie aus dem Einstieg wirklich wieder aussteigen kann.