Ein Neujahrstraum

Ich ging im Dunkeln eine Straße hinunter, bis ich auf ein gewaltig hingelagertes Gebäude stieß, dessen Anblick mich ehrfürchtig anhalten ließ. Es war im klassizistischen Stil aus riesigen gerundeten Quadern gefügt – nachträglich weiß ich, dass es dem Niedersächsischen Finanzministerium in Hannover ähnelte, das mich schon lange fasziniert. Es war festlich beleuchtet, und über dem Hauptportal, das zwei preußische Ulanen mit aufgestellter Lanze und ernstem Gesicht bewachten, stand riesig und in Stein gemeißelt:

CHRISTLICHE WERTE. GESETZ. VERFASSUNG.

Würdige Damen und Herren, von aktentragenden Assistenten begleitet, strebten gemessenen Schrittes ein und aus. Ich sah da Angela Merkel und Baron zu Guttenberg, und für einen kurzen Moment erkannte ich auf der Marmortreppe auch den jugendlich schreitenden David Cameron und den herumwuselnden Nicolas Sarkozy. Am oberen Treppenende segnete hoch aufgerichtet ein Kardinal eine kniende Frau. Da wusste ich, vor welchem Palast ich stand, denn ganz oben, auf dem Dach, glühte hell und riesig

„Europäische Volkspartei – EVP“.

Langsam und andächtig ging ich um den Palast herum. Da geschah Seltsames: Je näher ich der Rückseite kam, desto mehr veränderte er sich. Nun empfing mich wummernde Musik, und das Gebäude wurde zu einer Jahrmarktbude, mit Lärm, bunten Lichtern und Tingeltangel. Über allem hing noch immer das EVP-Logo, aber nun war es rot und blinzelte mir fast komplizenhaft zu. Darunter Botschaften in blinkendem Grün und Blau:

KEINE REGEL! ME NE FREGO! TUTTO PERMESSO! DAS VOLK BIN ICH! DAS LEBEN IST LEICHT! GELD! FRAUEN! DROGEN! LIEBER MINDERJÄHRIG ALS SCHWUL!

Daneben in flammendem Rot:

AUSLÄNDER RAUS!

Und alles überstrahlend: FREIHEIT!

Auch hier ein emsiges Kommen und Gehen. Ich sah Boten mit Paketen unter dem Arm, auf denen VORSICHT! STIMMEN! FRAGIL! stand. Bestochene Finanzbeamte, erpresste Richter und gekaufte Abgeordnete mit dicken Briefumschlägen eilten geschäftig ein und aus. Da hielt eine Staatskarrosse, aus der eine Wagenladung voller Prostituierter, Zuhälter und Drogenhändler fröhlich schwatzend dem Hintereingang zustrebte.

Nun öffnete sich auch ein Palastfenster in einen hellen Saal, in dem sich wie in Goethes Zeiten ein Lebendes Bild aufgebaut hatte. In der Mitte saß unter einem Baldachin die mütterlich lächelnde Angela Merkel. In ihrem Schoß hielt sie einen kleinen pausbäckigen Silvio Berlusconi, der kräftig geschminkt war und ihr strampelnd und glücklich krähend in die Backe kniff. Daneben auf einen Stab gestützt Peter Hintze, der auf die Szene weisend „Wunderbar!“ rief. Über allem das Spruchband: „Eine glückliche Familie“. Viktor Orban aus Ungarn, Gaddhafi aus Lybien, Putin aus Russland, Cosentino von der Camorra und Dell’Utri von der Cosa Nostra standen davor und brachten Geschenke. Man herzte und küsste sich, kniff Wangen und massierte Schultern. Dahinter ein Chor jubilierender „Veline“, Silvios zahlreiche Freundinnen, die er mit Sitz und Stimme in Parlament und Senat versorgt hatte. Einfache Leute waren da, sie trugen die Fahnen der PdL. An der Wand in Flammenschrift:

COINCIDENTIA OPPOSITORUM.

Da beschloss ich aufzuwachen. Meine Frau warf mir am nächsten Morgen vor, ich hätte in der Nacht um mich geschlagen. Merkwürdig. Es war doch eigentlich ein schöner Traum.