Kranke Demokratie

Eine Demokratie braucht Regeln, die klar und sicher sind. Sonst ist sie keine.

Um dies zu verstehen, genügt ein Blick auf Italien, wo in einigen Wochen Regionalwahlen abgehalten werden. Einige Parteien haben rechtzeitig ihre Wahllisten präsentiert, andere haben bei der Vorlage der nötigen Dokumente Fehler gemacht und wurden somit von der Wahl ausgeschlossen. In einem normalen Land wäre das nicht passiert, und zwar aus mehreren Gründen.

Zunächst würde in einem normalen Land das Verfahren auf das Wesentliche ausgerichtet sein, nämlich denjenigen, die an den Wahlen teilnehmen wollen, zu garantieren, dass sie die eigenen Listen ohne tückische und letztlich unnötige bürokratische Vorschriften vorlegen können. Aber Italien ist kein normales Land. Das gegenseitige Misstrauen der politischen Kräfte ist so groß, dass die Wahlgesetze endlose bürokratische Kontrollen, Unterschriften, Gegenzeichnungen, Bescheinigungen, Genehmigungen, Stempel, Beglaubingungen usw. erforderlich machen. Dass all dies nicht ausreicht, um Betrügereien auszuschließen, hat sich kürzlich im Fall des Senators Di Girolamo gezeigt, der ein ‚Ndrangheta-Mann sein soll.

In einem normalen Land würde man die Regeln genau beachten, und wenn sie sich als absurd oder falsch erweisen, rechtzeitig ändern. Wenn sie aber gelten, müssen sie respektiert werden, und wer dies nicht tut, ist aus dem Spiel. Aber Italien ist kein normales Land, so dass sich die Regierung sofort mit einem Gesetzesdekret einschaltete, um die ausgeschlossenen Wahllisten, die alle zur Mitte-Rechts-Koalition gehören, wieder ins Rennen zu schicken. Es ist offensichtlich äußerst schwerwiegend, dass sich die Regierung in einem so sensiblen Bereich wie der Wahl mit einem Gesetzesdekret einschaltet, welches das Parlament ratifizieren muss. Wenn sie es dann auch noch mitten in einem bereits stattfindenden Wahlkampf tut, um etwas zu legalisieren, was nicht legal ist, verletzt sie fundamentale Grundsätze der Demokratie.

Die Opposition hat sich dagegen erhoben und schien sich einen Moment lang im Protest zu vereinen. Aber da Italien nun einmal kein normales Land ist, kam es hier sofort zu internen Auseinandersetzungen. Di Pietro, der populistische Ex-Staatsanwalt, der die Partei Italia dei Valori (Idv, Italien der Werte) führt, forderte zuerst „eine Intervention der Streitkräfte, um den Diktator zu stoppen„, und kam dann auf die Idee eines Impeachment-Verfahrens gegen Staatspräsidenten Napolitano, dessen Schuld darin besteht, das Regierungsdekret gegengezeichnet zu haben. Dabei hat der Staatspräsident nur das getan, was die Verfassung ihm zu tun gebietet, und hat in diesem Rahmen alle ihm gegebenen Möglichkeiten genutzt, indem er einen ersten Gesetzesentwurf Berlusconis zurückwies.

Das beunruhigendste Signal für den Gesundheitszustand der italienischen Demokratie geht jedoch von einem anderen Bereich aus, dem der politischen Information durch Funk und Fernsehen. Vor Jahren kam es hier zu einer Regelung, die allen politischen Kräften während eines Wahlkampfs Chancengleichheit garantieren sollte (das sog. Par Condicio-Gesetz). Der Grund dieser Regelung ist die italienische Anomalie, dass es einen Politiker gibt, der bereits einen großen Teil des Informationswesens in seinem (Privat-)Besitz hat, und nun, seitdem er Ministerpräsident ist, auch über das öffentliche Fernsehen (RAI) verfügt. Die Regelung enthält jedoch das Paradox, dass um der Informationsfreiheit willen … der Raum für Informationen eingeschränkt wird!

Die Mitte-Rechts-Koalition hat dem nun einen weiteren Dreh gegeben, indem sie der RAI während des Wahlkampfs die (wenigen) politischen Talkshows untersagte und die politischen Informationsmöglichkeiten auf die Fernsehnachrichten und die Wahlspots der Parteien beschränkte. Was bedeutet, dass nun Berlusconis Privatkanäle den Unterschied ausmachen, und zwar nicht nur wegen der dreisten Parteilichkeit bestimmter Nachrichtensendungen (vor allem von TG4), sondern auch wegen der Botschaften, die über „leichte“ Sendungen transportiert werden können, in denen sich zwischen einer Nachricht über neue Liebesaffairen der VIPs und einem Kochrezept gut ein Lob auf Silvio B., den neuen Paten Italiens, einflechten lässt.

Für den gesunden Menschenverstand bedürfte es keines Gesetzes zur Chancengleichheit, wenn alle Journalisten ihrem Beruf mit Unabhängigkeit und Augenmaß nachgingen, das Informationswesen nicht in den Händen weniger läge und es ein Gesetz gegen Interessenkonflikte gäbe. Aber solche Dinge gibt es nur in normalen Ländern.

2 Kommentare

  • Graziano Priotto

    Leider ist alles was in diesem Artikel steht wahr und spiegelt 100% die Wirklichkeit der italienischen Politik und Gesellschaft.

    Dass man sogar (wie ich erst hier erfahre, ich weigere mich seit Jahren die italienischen lügnerischen Zeitungen zu lesen) wie Senator Di Pietro gesagt haben soll, sich eine Intervention der Streitkräfte wünscht, um den unleugbaren Verfall der Republik zu stoppen, zeigt wie desolat und aussichtslos die Lage ist. Aber ich war während meines Militärdienstes Offizier auf Zeit in Italien, und ich kann mich nicht vorstellen, dass diese Armee heute anders ist als vor 45 Jahren: sie ist weder fähig, einen konservativen, rechten wie einen progressiven, linken Staatsstreich zu verüben. Ich glaube, es gibt kaum eine andere Armee auf der Welt die so politisch desinteressiert ist wie die italienische: was durchaus auch positiv sein könnte.

    Aber eben, von dieser Seite her ist sicher keinerlei Hilfe für die Demokratie zu erwarten.

    Italien macht z.Z das größte Experiment der Geschichte: wie weit kann man eine Demokratie demontieren, vor den Augen der ganzen Welt, ohne bis jemand aufsteht und sagt, wie in der Fabel, dass der König nackt ist, hier: die Demokratie tot ist. Eine vage Erinnerung.

  • Motty Levi

    Ich kenne Kolleginen meiner Frau, die aus der Nichteinhaltung bestimmter italienischer buerokratischen Regeln es verpasst hatten festeingestellte Studienraete zu werden und, auf Grund ihrer Versaeumnisse dazu verdammt sind zeitlebens eine praekaere Arbeitsstelle als Hilfslehrerinnen zu haben. Ich kenne deshalb keinen plausiblen Grund warum Parteien die die gleiche „Schluderigkeit“ an den Tag legen, besser als jeder normale italienische Staatsangehoerige behandelt werden sollten, nicht zuletzt auch da die abstruse Buerokratie einzig und allein von einer dermassen hohen Unzahl von Dekreten und einstweiligen Gesetzen abhaengt, die das Walten der Justiz zu einem wirklich schlechten Scherz machen. Jede Regierungskoalition die, seit der Nachkriegszeit, in Italien mal fluechtig an der Macht war, hat dazu beigetragen die zivilen und poenalen Gesetzcodexe so dermassen ueberzuladen, dass wir heute ein bisschen weniger als 300.000 (!) Gesetze haben die kein sterblicher Mensch, nicht einmal ein volles Gremium sterblicher Menschen, als Richter, Staatsanwalt und Rechtsanwalt ueberblicken und anwenden kann. Aus meiner persoenlichen Sicht heraus finde ich es als angebracht und recht, dass eine Partei, die sich in den letzten Jahren in nichts Anderem, als in der Fertigung von selbstnuetzigen Sonderdekreten profiliert hat, jetzt ueber ihren eigenen Kehricht stolpert. Ich bin nicht schadenfroh, dennoch meine ich, als normaler italienischer Staatsbuerger, darueber efreut sein zu duerfen, dass es dieses, eine, Mal ein Hauch von angewandter Justiz in meinem Land gibt.

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