Italienische Neujahrskrise

Italien droht eine Regierungskrise, von der niemand so recht weiß, wie real sie ist. Diesmal hat sie nicht die 5-Sterne-Bewegung ausgelöst, sondern der zum Bündnis gehörende Matteo Renzi. Das fragile Bündnis, das die Regierung trägt, hätte – könnte man meinen – Wichtigeres zu tun: Die Pandemie ist noch in vollem Gang, und die EU-Mittel zu ihrer ökonomischen und sozialen Bewältigung, die hier zum Befreiungsschlag werden sollen, verlangen nach einer konzentriert handelnden Exekutive. Aber Renzi weiß es besser: Er ist offenbar zu dem Schluss gekommen, dass bei der Regierungspolitik etwas grundsätzlich falsch läuft, wobei er vor allem gegen Ministerpräsident Conte zielt. Da Renzi der Chef einer kleinen Partei namens „Italia Viva“ ist, ohne deren Abgeordnete das Bündnis (zumindest im Senat) keine Mehrheit hat, würde der Bruch Renzis mit Conte die Regierung zum Rücktritt zwingen. Dass sie am seidenen Faden hängt, zeigt seine Drohung, „seine“ zwei Ministerinnen und einen Staatssekretär aus der Regierung abzuziehen.

Kritik am Recovery-Plan

Die Kontrahenten Conte und Renzi

Es ist nicht leicht, den harten Kern des Konflikts zu benennen. Und zwar nicht deshalb, weil es keine Streitpunkte zwischen Conte und Renzi gibt, sondern weil Conte schon in vielen Punkten seine Positionen geräumt oder zumindest Entgegenkommen signalisiert hat. In Bezug auf die Verwendung der Mittel des Recovery Funds hatte Renzi vor allem zwei Kritikpunkte: Erstens sei die bisherige Planung noch zu sehr auf die Finanzierung von sowieso geplanten Projekten ausgerichtet und lege noch zu wenig Gewicht auf neue Strukturreformen, zum Beispiel im Bildungs- und Gesundheitsbereich; zweitens stecke in der geplanten governance dieser Projekte die Tendenz, die parlamentarische Kontrolle durch eine Superorganisation von Experten zu ersetzen – ein Verdacht, der durch die Art und Weise bestärkt wurde, wie Conte die Pläne durch den Ministerrat peitschte. Aber Conte hat schon in beiden Punkten den Rückwärtsgang eingelegt: Wirtschaftsminister Gualtieri erarbeitete eine Neufassung des Verwendungsplans, die den ersten Kritikpunkt aufnimmt, und im Hinblick auf die parlamentarische Kontrolle machte Conte bereits Zusicherungen.

Der noch offene Punkt ist die Nutzung von ESM-Mitteln für eine Reform des italienischen Gesundheitswesens (ESM = Europäischer Stabilitätsmechanismus), die Renzi mit aller Vehemenz befürwortet und die 5SB mit gleicher Vehemenz ablehnt. Dass sich Conte hier auf die Seite der 5SB schlug, ist als Kritik geblieben, wobei er jedoch darauf verweisen kann, dass an dieser Frage auch das Regierungsbündnis zerbrechen könnte – die neurotische Angst der 5SB vor Identitätsverlust hat sich auf diese Frage fixiert.

Die Kontrolle über die Geheimdienste …

Es gibt einen weiteren Konfliktpunkt, den Renzi in den letzten Monaten in den Vordergrund rückte: Die Frage der politischen Kontrolle über die Geheimdienste. Laut Gesetz fällt sie in letzter Instanz dem italienischen Ministerpräsidenten zu, aber Conte könnte – wie seine Vorgänger – diese Aufgabe auch an eine Person delegieren, die über genug öffentliches Ansehen verfügt, um nicht einfach als sein Strohmann zu gelten. Renzi fordert es, und auch die PD-Führung ist dieser Meinung, aber Conte sträubt sich. Über die Gründe gibt es Vermutungen – Italien ist das Land der Verschwörungstheorien –, die aber in den Köpfen der politischen Akteure wirkmächtig werden. Die folgende Erklärung entnehme ich einem Artikel von Carlo Panella, der Mitte Dezember im italienischen Blog „Linkiesta“ unter dem Titel „Persönliche Macht – Giuseppe Conte will einen Super-Geheimdienst schaffen (und seine eigene Partei)“ erschien und sich auf Informationen aus dem parlamentarischen Kontrollausschuss für die Geheimdienste („Copasir“) beruft. Wenn sie zutreffen, würden sie die Hartnäckigkeit erklären, mit der Renzi in diesem Punkt Conte angreift.

… in Contes längerfristigen Plänen

Conte, der der Regierungschef zweier ganz verschiedener Bündnisse war, aber hinter dem bisher keine eigene Partei steht, habe in Wahrheit erheblich weiter reichende politische Ambitionen. Er sei inzwischen, auch durch die Pandemie, zum populärsten Politiker Italiens geworden, und es gebe Umfragen, die einer von ihm gegründeten Partei ein Potenzial von 12 bis 15 Prozent der Wählerstimmen nachsagen. Beruflich sei er ein Fachmann für Verwaltungsrecht, der es gelernt habe, sich in den Seilschaften der Universitäten und staatlichen Verwaltungen zu bewegen. Da

  • er als Ministerpräsident auch zum obersten Kontrolleur der italienischen Geheimdienste geworden sei,
  • sich die Tätigkeitsfelder dieser Geheimdienste durch den Bereich cybersecurity vor allem bei der Wirtschaftskriminalität und der Abwehr feindlicher Übernahmen durch internationale Holdings erweitert hätten,
  • und die Steuerung der NextgenerationEu-Mittel den Aufbau eines Apparats mit 6 Supermanagern und 300 Beratern nahelegte,

wolle er die Gelegenheit nutzen, um sich „einen Super-Geheimdienst zu schaffen, mit sich selbst als Spitze, und einem offensichtlichen Ziel: die Schaffung eines Gerüsts von Managern, die über ein kostbares Wissen verfügen, eine große Seilschaft in den grundlegenden Ganglien des Staates, die dann auch zum tragenden Bezugspunkt für seine Partei würde“. Seine Macht würde dann vor allem auf seinem Informationsmonopol beruhen.

Zumindest Renzi scheint dies nicht nur für Spinnerei zu halten, womit sich auch sein Versuch erklärt, Conte um jeden Preis zu demontieren. Wofür es nun auch eine ganz banale Erklärung gäbe: Da auch Renzis Parteigründung „Italia Viva“ auf eine neue Unternehmerschicht im politischen Zentrum zielt, muss er in Contes Plänen eine direkte Konkurrenz sehen.

Contes Avancen gegenüber dem Trumpismus

Mit dem Thema Geheimdienste verbindet sich eine weitere Differenz, die sich zuletzt nach Joe Bidens Wahlsieg zeigte: Im Unterschied zu den meisten europäischen Regierungen, die Biden auch persönlich Glückwunsche übermittelten, verhielt sich Conte ungewöhnlich zurückhaltend: Seine Glückwünsche bezogen sich auf „Wahlbeteiligung“ und „Institutionen“ und erklärten Biden nur „die Bereitschaft zur Zusammenarbeit“. Diese Kargheit hat eine Vorgeschichte: Als 2019 das Regierungsbündnis zwischen 5SB und Lega zerbrach, kam es zu einer Annäherung zwischen der Trump-Administration und Conte (Salvini, der eigentliche Geistesverwandte Trumps, war diesem suspekt geworden, weil er ihm zu Putin-hörig war). Da Trump in Vorbereitung des nächsten Wahlkampfs Material gegen den Vorwurf suchte, er sei 2016 bei seiner ersten Wahl von Putin unterstützt worden, schickte er seinen Justizminister Barr im Frühherbst 2019 zweimal nach Rom. Conte scheint ihm damals unter Umgehung jeden Protokolls alle Türen geöffnet zu haben, indem er ihn direkt mit dem zuständigen italienischen Geheimdienstchef verhandeln ließ. Was Trump damit honorierte, dass er seinem Freund „Giuseppi“ per Twitter eine „gute Zusammenarbeit mit den USA“ bescheinigte und zum „privilegierten Partner in Europa“ erklärte, der „Premierminister bleiben“ solle. Schon damals forderte Renzi, Conte solle seine direkte Zuständigkeit für die Geheimdienste aufgeben. Inwieweit Conte bereits ist, sich auf einen solchen Machtverlust einzulassen, wird sich noch zeigen.

Suche nach Auswegen

Es ist das Problem der gegenwärtigen Auseinandersetzung, in der sich vordergründig Conte und Renzi gegenüberstehen, dass jede Seite mit dem definitiven Bruch zwar droht, aber ihn sich nicht wirklich leisten kann. Für die fragile Regierungsmehrheit sind weder Conte noch Renzi ersetzbar. Trotz seiner Popularität kann auch Conte nicht von heute auf morgen eine neue Partei aus dem Boden stampfen. Er versucht zwar den Aufbau einer Gegendrohung, indem er im zentristischen und halbrechten Lager nach potenziellen Überläufern sucht, die Renzis Truppe bei einer Vertrauensabstimmung ersetzen könnten. Aber selbst wenn er sie in genügender Anzahl fände – was mehr als fraglich ist –, würden weder die PD (die sich nicht in diese Abhängigkeit begeben will) noch Staatspräsident Mattarella (der keine Regierung auf so bröckeliger Grundlage tolerieren würde) dabei mitspielen. Andererseits hat Renzi das Problem, mit dem angedrohten Rückzug von 18 Senatorinnen und Senatoren zwar jeden in Schrecken versetzen zu können, der Neuwahlen verhindern will, aber im Ernstfall wohl im politischen Nirwana verschwinden würde. Trotzdem muss er nach Sichtbarkeit und vorzeigbaren Erfolgen suchen, um aus der Falle einer Dreiprozent-Partei herauszukommen.

Ob Renzi die sich abzeichnenden Zugeständnisse Contes beim Recovery-Plan und in der Geheimdienstfrage (wo die Zugeständnisse noch unklar sind) als solche Erfolge genügen, ist noch nicht abzusehen – bisher scheint Renzi wie ein Pokerspieler seinen Einsatz in jeder Runde zu erhöhen. Zu seiner Besänftigung wird im Bündnis eine Regierungsumbildung diskutiert, die Renzi zu einem Ministerposten verhelfen könnte (eine Ambition, die dieser heftig abstreitet). Oder, hinter vorgehaltener Hand, als noch stärkeres Signal eine „Conte 3“-Regierung, die aber riskant ist, weil sie voraussetzt, dass Staatspräsident Mattarella einen zurückgetretenen Chef der „Conte 2“-Regierung mit dem Versuch einer erneuten Regierungsbildung beauftragt, was keineswegs sicher ist.

Vorerst verhalten sich die Kontrahenten noch wie zwei aufeinander losrasende Todesfahrer, von denen verloren hat, wer als erster ausweicht. Massimo D’Alema, der alte Haudegen und Überlebende der KPI-Ära, der Renzi seit Jahrzehnten in herzlicher Feindschaft verbunden ist, verwies vor ein paar Tagen in der „Repubblica“ auf die Absurdität, „dass man den populärsten Mann des Landes aus dem Amtssitz des Ministerpräsidenten verjagen kann, um dem unpopulärsten Mann des Landes einen Gefallen zu tun“. Renzi antwortete ihm gestern, auf „Likes“ zu schauen sei Sache der Influencer, nicht der Politiker. Die Sottise ist hübsch, aber es ist doch aufschlussreich, wo er nicht widerspricht: dass er Conte weghaben will, koste es was es wolle. Und diese Kosten könnten hoch sein.