„Krieg der Armen“ in Mondragone

Im September gibt es in Kampanien Regionalwahlen. Nach den gegenwärtigen Prognosen steht das Ergebnis auf der Kippe, aber diesmal scheint die Madonna ihrem Schützling Salvini schon im Vorfeld ein Geschenk zu machen, das seine Hoffnung auf den Wahlsieg stärken wird. In Gestalt eines Konflikts in einer kampanischen Kleinstadt, der es Salvini erlaubt, endlich wieder zu dem Thema zurückzukehren, mit dem er die Lega zur stärksten politischen Kraft Italiens machte: die „kriminellen Ausländer“. Wobei ihm das Corona-Virus, das ihn so lange in den Hintergrund drängte, diesmal sogar zu Hilfe kommen könnte.

Eskalation

Der fliegende Stuhl

Es begann eher zufällig und im Kleinformat: Als vor ein paar Wochen im Krankenhaus von Mondragone eine bulgarische Landarbeiterin erschien, um dort ein Kind zu gebären, stellte sich heraus, dass sie „Corona-positiv“ war. Worauf die Behörden taten, was in Italien inzwischen Routine ist: ein Breitentest in dem Bereich, den die Arbeiterin als gegenwärtigen Wohnort angegeben hatte. Ergebnis: Von 743 getesteten Personen erwiesen sich 43, vor allem Bulgaren, als „positiv“ (später kamen noch 23 weitere hinzu). Woraufhin er zur „roten Zone“ erklärt wurde: Sperrung der Aus- und Zugänge, Quarantäne für die dort Wohnenden. Wenige Tage später kam die Reaktion: Ein Teil der Bewohner unternahm einen Ausbruchsversuch, um „Wasser und Medikamente zu besorgen, einzukaufen und wieder zur Arbeit zu gehen“ (wobei einigen die Flucht ins Umland gelungen sein soll). Als sich neben der Polizei auch empörte Einheimische dem Ausbruchsversuch entgegenstellten („wir müssen monatelang in Quarantäne, und die schleppen uns das Virus ein und tun so, als ob sie das alles nichts angeht“), kam es zur Eskalation: Während die Bulgaren von den Balkons aus nicht nur mit Schimpfworten, sondern auch mit Gegenständen warfen (ein Polizist wurde durch einen herabfliegenden Stuhl verletzt), wurden unten vor den Absperrungen geparkte bulgarische Autos demoliert und eines in Brand gesteckt. Angesichts dir Eskalation und der sich „unten“ entwickelnden Progromstimmung schickte Regionspräsident De Luca (PD) 100 Soldaten, um zumindest äußerlich die Ruhe wiederherzustellen.

Der soziale Hintergrund

Die Kleinstadt Mondragone, in der 30.000 Menschen leben, liegt ca. 50 Km nordwestlich von Neapel am Meer. Die Region Kampanien, die vor allem von der Landwirtschaft lebt, wurde in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts von einem Traum heimgesucht, der auch Mondragone erfasste: der Aufbruch aus Armut und Rückständigkeit. Nach Mondragone kam dieser Traum in Gestalt des Nahrungsmittelkonzerns Cirio, dessen Geschäftsidee es war, landwirtschaftliche Produkte in Konserven zu verwandeln. Er siedelte dort nicht nur eine Tomatenfabrik an, sondern zog auch für die Beschäftigten Wohnhäuser hoch, die damals aufgrund ihres spektakulären Aussehens als Inbegriff der Modernität galten. Aber wie vieles im Süden scheiterte auch dieses Projekt, um die Jahrtausendwende wurde der Konzern zahlungsunfähig. Die Tomatenfabrik verschwand, und in Mondragone blieben nur die „Palazzi“, die der Konzern, als er pleitegegangen war, an Privatleute verscherbelte und die heute „Ex-Cirio“ genannt werden. Trotz seines Aussehens ist der Wohnkomplex mittlerweile zum Inbegriff des Verfalls geworden: kleine Wohnungen, verkommene Infrastruktur, schlechte hygienische Verhältnisse, ein Eldorado des Zigaretten-, Alkohol- und Drogenschmuggels. In diesem Komplex hat die Stadt inzwischen Obdachlose untergebracht, ansonsten werden die Wohnungen (häufig auch „schwarz“) für monatlich 100 € pro Kopf an „legale“ und „illegale“ bulgarische Saisonarbeiter vermietet, die zwischen 5 und 9 Monaten im Jahr bleiben, oder an bulgarische „Badanti“, die sich in den italienischen Familien als Pflegekräfte für die Alten verdingen. Oft werden 10 bis 15 Menschen in einer Wohneinheit zusammengepfercht. Die Bulgaren, unter ihnen auch Roma, kommen mit Kind und Kegel, ohne dass die Kinder während dieser Monate in irgendeine Schule geschickt werden. Ihr Zeitvertreib sind Fußball und Fahrrad, wenn sie sich nicht durch Prostitution ein paar Euros zusätzlich verdienen.

Ungeschützte Arbeitsverhältnisse

Schon allein die Wohnsituation der bulgarischen Saisonarbeiter macht klar, dass es zu kurz gegriffen wäre, die Ursache des dortigen Elends nur in der Corona-Krise zu suchen. Wie bei Tönnies in Gütersloh deckte die Krise nur auf, was sonst kollektiv verheimlicht wird. Mit dem Unterschied, dass in Gütersloh noch kein offener „Krieg der Armen“ ausbrach, wie es in Mondragone zwischen Einheimischen und ausländischen Saisonarbeitern geschah.

Aber ähnlich wie bei Tönnies ist die Kehrseite der Wohnsituation die Rechtlosigkeit, auf die sich die ausländischen Arbeiter auch in ihrem Arbeitsverhältnis einlassen müssen und für die zumindest in Italien das Wort „Sklaverei“ eine Beschönigung ist. Denn während die Sklaven noch Besitzer hatten, für die sie noch einen Wiederverkaufswert haben konnten, den es zu erhalten galt, liegt der Wert der Saisonarbeiter allein in ihrer sofort nutzbaren Arbeitskraft, zumindest wenn sie „illegal“ sind. Ebenso wie für diese Saisonarbeiter selbst der Nutzen ihrer Arbeit allein in den 30 Euro liegt, die sie abends nach 11-stündiger Arbeit (wenn alles gut geht) in der Tasche haben, von denen sie den eigenen Lebensunterhalt und den ihrer Familien bezahlen müssen. Da es für diesen Teil der Bevölkerung weder soziale Rechte noch Schutzgarantien gibt, stößt hier der staatliche Versuch, eine Pandemie durch Quarantäne und Appelle an den Gemeinsinn unter Kontrolle zu bringen, an seine Grenze. Denn die Rechtlosen, die jede Nacht noch vor dem Morgengrauen von den „Caporali“ (die hier oft selbst Bulgaren sind) auf die Felder gebracht werden, haben gelernt, dass die Gesetze der sie umgebenden Gesellschaft für sie selbst keine Geltung haben, außer dem Gesetz, dass sie sich für diese Umgebung möglichst unsichtbar machen sollten. So wie auch die einheimische Bevölkerung gelernt hat, an ihnen vorbeizuschauen, als ob sie gar nicht da sind.

Eine italienische Lebenslüge

Seit Jahrzehnten lebt die Versorgung Italiens mit Lebensmitteln vom Ausblenden der Realität: Die vielen kleinen und mittleren landwirtschaftlichen Betriebe überleben nur deshalb, weil sie von einem Heer unterbezahlter Saisonarbeiter in Gang gehalten werden, für die es keine sozialstaatlichen Regeln gibt. Dieser Zustand totaler Rechtlosigkeit ist es, der sie in ständiger Angst hält und gefügig macht. Wovon das Corona-Virus jetzt – wie in der Fleischfabrik von Gütersloh – den Vorhang wegreißt. Denn nun zeigt sich, dass hier der gesellschaftliche Zusammenhalt längst zerbrochen ist. Obwohl die Saisonarbeiter zu einem integralen Bestandteil der italienischen Ökonomie geworden sind, leben sie in Verhältnissen, die sie aus der Gesellschaft ausschließen. Was nicht nur die Saisonarbeiter selbst bedroht, sondern sie im Moment der Pandemie zur Gefahr für alle macht. Als sie in Mondragone versuchten, aus ihrem Ghetto auszubrechen, taten sie es, um zu überleben. Aber ihr Überlebensinteresse ist nicht in das Gemeinwohl der umgebenden Gesellschaft integriert. Dieses ist das Gemeinwohl einer Mehrheitsgesellschaft, aus der sie selbst ausgeschlossen sind.

PS: Dreimal darf man raten, wer am Montag nach Mondragone kam: Matteo Salvini, denn im September wird in Kampanien gewählt. „Wo Konflikte anzuheizen sind, kommt er“, kommentierte Roberto Saviano. Salvinis Anhänger hatten einen triumphalen Empfang vorbereitet, aber es gab Widerstand, und die Kundgebung musste vorzeitig abgebrochen werden. „Störer von außerhalb“ seien schuld, kommentierte Salvini hinterher (tatsächlich wurden unter den Gegendemonstranten auch Aktivisten der neapolitanischen „Centri sociali“ gesichtet, in Deutschland hießen sie „Autonome“). Salvini wird versuchen, auch daraus ein Argument zu machen, er hat darin Routine. Der Wahlkampf hat begonnen.  

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