Gratwanderung

„Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“ (Hölderlin)
„Du hast keine Chance, also nutze sie“ (Sponti-Spruch)

Es ging durch alle Zeitungen: Am vergangenen Dienstag kündigte Ministerpräsident Conte vor dem Senat an, noch am gleichen Abend zurückzutreten. Salvini hatte erreicht, was er mit seinem Misstrauensantrag wollte (dass er ihn abends um 20 Uhr wieder zurückzog, tat schon nichts mehr zur Sache). Aber er ging trotzdem aus dieser Sitzung als Verlierer hervor. Er hatte offenbar erwartet, dass der Ministerpräsident nach dem Misstrauensantrag ohne viel Aufhebens zurücktritt und Mattarella schnelle Neuwahlen ausschreibt. Aber Conte zeigte plötzlich Eigensinn und wollte sich erst einmal vor dem Parlament verantworten, das ihn gewählt hatte. Das hatte Salvini schon nicht mehr eingeplant – seine Stärke sind Auftritte auf Marktplätzen und am Strand, nicht im Parlament. Aber das Ergebnis ist (für ihn) noch schlimmer. Die sofortigen Neuwahlen wird es – vielleicht! – nicht geben. Sondern nur einen Wechsel der Regierung, und seinen Posten als Innenminister, den er sich als Basis seiner Karriere selbst ausgesucht hat, wäre er nach 14 Monaten schon wieder los. Der Meister aller Klassen hat sich schlicht verrechnet. In den aktuellen Umfragen liegt er zwar weiterhin an der Spitze, aber in beiden Kammern, die vor knapp anderthalb Jahren gewählt wurden, stellt die 5SB vorerst weiter die jeweils größte Fraktion.

Contes Abrechnung mit Salvini

Am Dienstag waren es die Regeln der von ihm verachteten repräsentativen Demokratie, die Salvini in die Defensive zwangen. Bevor er zu Wort kam, musste er sich erst einmal heftig grimassierend eine Rede Contes anhören, die eine einzige Abrechnung mit „Freund Matteo“ war: Illoyalität, Mangel an institutioneller Kultur, Opportunismus, Autoritarismus, Missbrauch religiöser Symbole, Verdunkelung der russischen Affäre. Dann hatte Salvini seinen Auftritt, den er an hundert italienischen Stränden eingeübt hat, aber der vor diesem Forum hilflos wirkte, obwohl er wieder den Rosenkranz küsste und seine Claqueure Beifall gröhlten. Seine Antwort bestand aus zwei „Argumenten“: Ihr habt ja nur Angst vor der Wahl und um eure Posten, und (an Conte gewandt) Warum sagst Du mir das erst jetzt (da war man noch beim Du).

Am Lauf der Dinge konnte Salvini nichts mehr ändern: Conte ging noch am gleichen Abend zu Mattarella, der ihn erst einmal bat, seine Amtsgeschäfte vorläufig weiterzuführen. Und der sofort alle Fraktionen zu Sondierungsgesprächen einlud, um auszuloten, ob es auch ohne Neuwahlen Chancen zu einer neuen Mehrheit gibt. Denn nun muss sich Salvini, der sofortige Neuwahlen will (die Umfragen sind doch so günstig!), einer weiteren Regel der italienischen Demokratie unterwerfen: Die Kammern werden für 5 Jahre gewählt, und wenn in dieser Zeit eine Regierung platzt, muss der Staatspräsident als erstes schauen, ob sich eine Mehrheit für eine neue Regierung findet, bevor er Neuwahlen ausschreibt.

Bündnis mit der PD?

Aber die Entwicklung stellt nicht nur Salvini vor ein Problem. Ohne Neuwahlen, darin sind sich alle einig, gibt es nur eine realistische Alternative zur gescheiterten Koalition zwischen 5SB und Lega: ein Bündnis zwischen 5SB und PD (und vielleicht noch zwei weiteren linken Splitterparteien). Die 5SB hat bereits signalisiert, dass sie dazu bereit wäre, und hat dafür schon einen Ministerpräsidenten-Kandidaten. Es ist wieder Conte, der in den letzten Monaten an Statur und Popularität gewonnen hat. Aus ihrer Sicht wäre es eher ein Weiter-so-wie-bisher, nur mit einem neuen (kleineren) Partner. Die Interessenlage der 5SB ist klar: um jeden Preis Neuwahlen vermeiden, denn käme es jetzt zu ihnen, würde man sehen, dass sie jetzt schon mehr als die Hälfte ihrer Wählerschaft verloren hat.

In diesem Punkt hätte die PD von Neuwahlen weniger zu befürchten. Im Vergleich zu den Wahlen vor 14 Monaten, vielleicht auch zu den Europawahlen, könnte sie sogar ein paar Prozent zulegen und dabei die 5SB überholen.

Das Angebot der 5SB stellt sie trotzdem vor ein Dilemma. Sie war gerade dabei, sich von ihrer verheerenden Niederlage vor einem Jahr wieder ein wenig zu erholen, indem sie sich, wie Gad Lerner schreibt, der heilsamen „Diät der Oppostion“ unterzog. Das könnte die neue Koalition wieder aufs Spiel setzen. Zur Tradition der italienischen Linken gehört aber auch der Anspruch, das Gesamtinteresse im Auge zu haben. Und dies lässt der PD eigentlich keine Wahl. Denn gegenwärtig würden Neuwahlen zu einer Situation führen, vor der „Angst“ zu haben durchaus vernünftig ist: die Machtergreifung einer von den Souveränisten dominierten Rechten, die aus der EU, den Migranten und den Menschenrechten endgültig Kleinholz macht, ohne dass dies noch in absehbarer Zeit (die nächste Wahl wäre 2024) rückgängig zu machen ist. 2022 steht die Neuwahl des Staatspräsidenten an – wenn es dieser Rechten gelänge, auch noch die letzte Bastion der repräsentativen Demokratie zu erobern, wäre, wie Marco Revelli schreibt, der Weg für einen Regimewechsel frei.

Für die 5SB eine Koalition ohne Überzeugung

Mattarella sondiert bei der PD

Mattarella sondiert bei der PD

Auf der anderen Seite könnte die PD in einer solchen Koalition nicht nur ihre Seele, sondern auch noch ihre letzte Anhängerschaft verlieren. Denn diese Koalition hätte nur dann einen politischen Sinn, wenn es zu einem deutlich erkennbaren Kurswechsel käme. Die Vorzeichen dafür, dass dies mit der 5SB möglich ist, sind nicht gut. Es begann mit dem Treffen der Führung der 5SB, die Grillo vergangenen Sonntag einberief und den Bruch mit Salvini beschloss. Das anschließende Kommuniqué nannte nur einen Grund: Salvinis „Illoyalität“. Kein Wort der Kritik (und Selbstkritik!) an der bisherigen Regierungspolitik, zu der ja auch die rechtsautoritären Sicherheitsgesetze und eine mörderische Migrantenpolitik gehören – nur dass Salvini plötzlich einfach den Stecker rauszog, war schlimm. (Auch Conte überging in seiner Rede diese Punkte mit Schweigen, obwohl sich, während er redete, ein paar hundert Meter vor Lampedusa wieder eine humanitäre Katastrophe abspielte). Aber laut Umfragen ist die Anhängerschaft der 5SB ein Spiegel ihrer Führung: Nur ein Minderheit ist aus politischer Überzeugung für ein Bündnis mit der PD.

In Wahrheit steht also die PD vor einem echten Dilemma, das auch dadurch nicht leichter wird, dass sie immer noch vom Spaltpilz bedroht ist. Zingaretti ist der gewählte Generalsekretär, während Renzi, sein Vorgänger in diesem Amt, in den vergangenen Jahren dafür gesorgt hat, dass die PD-Fraktionen beider Kammern mehrheitlich mit seinen Anhängern besetzt sind. Renzi, der mit Abstand beste Debattenredner der PD, kann sie also jederzeit erpressen. Leider ist er auch unfähig zur Unterordnung, was die jetzt anstehenden Verhandlungen belastet.

Das Pokern beginnt

Während Mattarella bei der Koalitionsbildung zur Eile drängt (sonst droht auch er mit Neuwahlen), nennt Zingaretti mit Zustimmung des PD-Direktoriums 5 Punkte, die er zur Grundlage der Verhandlungen mit der 5SB machen will:

• Loyale Zugehörigkeit zur EU
• Anerkennung der repräsentativen Demokratie und der Zentralität des Parlaments
• Ökologisch nachhaltige Entwicklung
• Eine andere mit Europa abgestimmte Migrantenpolitik
• Eine Wende in der Wirtschafts- und Sozialpolitik, Schwergewicht Investitionen.

Um dem auch seinerseits etwas entgegenzusetzen, hat sich Di Maio 10 Punkte ausgedacht, mit der Halbierung der Abgeordnetensitze in beiden Kammern an der Spitze. Im Prinzip kein Problem, antwortete Zingaretti, wenn wir gleichzeitig das Wahlgesetz ändern. An diesem Freitag gab es das erste Sondierungsgespräch zwischen beiden potenziellen Koalitionären. Eigentlich müsste man sich einigen können, lautete das Ergebnis. Den Wunsch der 5SB, an Conte als Ministerpräsident festzuhalten, hat Zingaretti entschieden zurückgewiesen. Es müsse eine „Regierung der Diskontinuität“ werden, so seine Grundforderung.

Nun geht auch Salvini gegenüber der 5SB wieder auf Schmusekurs, denn er weiß, was auch für ihn und seine souveränistische Machtübernahme auf dem Spiel steht. Er sei zwar weiterhin für sofortige Neuwahlen, aber man könne es ja auch ohne sie nochmal miteinander versuchen. Di Maios 10 Punkte werde er sofort annehmen. Angeblich soll er ihm sogar angeboten haben, dass nun auch jemand von der 5SB Contes Nachfolger werden könne.

Die Versuchung für die 5SB, bei den jetzt anstehenden Koalitionsverhandlungen „auf zwei Herden zu kochen“, wie man in Italien sagt, wird größer. Es gibt schon erste Stimmen in der „Bewegung“, die sagen, dass man damit doch wundervoll die Preise hochtreiben kann. Man kann hoffen, dass sich die PD an diesem Wettbewerb nur begrenzt beteiligt. Aber leider steht dabei nicht nur das Schicksal der PD und Italiens, sondern auch Europas auf dem Spiel.

Es ist noch nichts entschieden.