Im Würgegriff der Lega

Online-Abstimmung rettet Di Maio

„Die 5-Sterne-Bewegung verliert nie: Sie gewinnt oder sie lernt dazu. Wir gegen alle, alle gegen uns. Wir werden stärker als je zuvor“. Mit solchen Durchhalteparolen hatte Di Maio im „Blog delle Stelle“ zur Online-Abstimmung über seine Funktion als „capo politico“ aufgerufen, wie immer auf der „Rousseau-Plattform“, die Davide Casaleggio gehört. Erwartungsgemäß wurde Di Maio mit großer Mehrheit bestätigt: 44.849 (ca. 80%) waren dafür, 11.278 dagegen. Di Maio feierte das Ergebnis als großen Sieg der „direkten Demokratie“ und „Weltrekord“ der Teilnahme an einer Online-Abstimmung.
Die Rousseau-Plattform ist ein intransparentes und manipulierbares Instrument. Die Zertifizierung der Mitglieder, die an den Abstimmungen teilnehmen dürfen, die Verwaltung der Daten und der ganze Wahlvorgang liegen in der Hand der „Casaleggio Associati“, ohne jede Kontrollmöglichkeit durch externe unabhängige Instanzen. Der nationale Datenschutzbeauftragte hatte daher dem Unternehmen bereits eine Geldstrafe in Höhe von 50.000 Euro auferlegt: Die „Rousseau-Plattform“ garantiere nicht das Wahlgeheimnis und sei gegen Manipulationen nicht geschützt. Casaleggio bezahlte die Strafe und räumte damit die Vorwürfe indirekt ein. Und versprach, die Plattform zu verbessern – was bisher nicht geschehen ist.

Die Ratlosigkeit bleibt

Di Maio hätte die Entscheidung über seine politische Zukunft auch anders herbeiführen können. Etwa durch einen Rücktritt aus eigener Initiative oder über ein Votum der Abgeordneten-Versammlung der 5SB (Leitungsgremien wie in anderen Parteien gibt es bei den Grillini nicht), aus deren Reihen bereits Kritik geäußerte wurde. Er bevorzugte jedoch das erprobte Ritual mit der von Casaleggio kontrollierten Rousseau-Plattform.
„Die 5SB verliert nie, sie gewinnt oder lernt“. Ist es so? Der Eindruck, den die 5SB aktuell erweckt, ist Ratlosigkeit. Die Linie des „Weiter so mit der Lega“ hat sich (zunächst) durchgesetzt, ist aber illusionär und riskant. War es für die 5SB schon vor der Europawahl schwierig, Salvinis Dominanzanspruch standzuhalten, ist es jetzt angesichts der veränderten Kräfteverhältnisse unmöglich. Die Einflussnahme der 5SB auf das Regierungshandeln hängt von Salvinis Gnade ab.

Salvini diktiert die Agenda

Tempi passati

Tempi passati

Der wendet derzeit die Taktik von Zuckerbrot und Peitsche an. Einerseits kam er im Fall des Lega-Staatssekretärs Rixi, der wegen Fälschung und Veruntreuung öffentlicher Gelder gerade zu drei Jahren und drei Monaten Haft verurteilt wurde, den Grillini entgegen und drängte seinen Vertrauten Rixi „aus Rücksicht auf die Koalition“ zum Rücktritt. Andererseits diktiert er die Regierungsagenda am Ministerpräsidenten vorbei und ohne Abstimmung mit dem Koalitionspartner.
Neben dem Dauerthema Migranten und Flüchtlinge nennt er folgende Prioritäten: 1) die „flat tax“ (einheitlicher Steuersatz von 15% für alle Einkommen bis 65.000 Euro, Kosten: 30 Milliarden), 2) Realisierung der Trasse Turin-Lyon (TAV), 3) Steuererlass für Fiskusbetrüger (wer nachträglich sein Einkommen erklärt, braucht nur 20% seiner Steuerschulden zu bezahlen), 4) „Vereinfachungen“ bei der Vergabe öffentlicher Aufträge (die in Italien vor allem Korruptionsgeschäfte und mafiose Infiltration erleichtern), und last not least 5) Konfliktkurs gegen die EU, die Italien gerade in einem „Mahnbrief“ erneut zu Strukturreformen und zur Einhaltung der Defizitgrenze von 3% aufgefordert hat.

Wie lange hält die 5SB durch?

Abgesehen von den Themen Migration und Schuldenmacherei, bei denen sich 5SB und Lega in Wahrheit einig sind, handelt es sich bei allen genannten Prioritäten um „Lega-Themen“, die nicht zur grillinischen Agenda gehören. Sowohl die Hochgeschwindigkeitstrasse, deren Verhinderung ein Kernversprechen der 5SB war, als auch die Deregulierung der Auftragsvergabe und die flat tax, die niedrige Einkommen stärker belastet, sind für die 5SB schwer zu schluckende Kröten. Die sie dennoch hinunterwürgen werden, denn bei einem Bruch der Koalition mit wahrscheinlichen Neuwahlen müssen sie befürchten, politisch bedeutungslos zu werden. Andererseits kann auch ein langsames Ersticken im Würgegriff der Lega am Ende zum gleichen Ergebnis führen.
Noch sind die Stimmen der Kritiker verhalten und ist die Furcht vor dem Machtverlust groß. Aber es gibt sie. Ihr prominentester Vertreter ist Roberto Fico, zurzeit Vorsitzender der Abgeordnetenkammer. Fico, der den „linken“ Flügel vertritt, vermeidet die offene Konfrontation mit Di Maios Kurs. Er äußert seinen Dissens vielmehr durch demonstrative Gesten und öffentliche „Botschaften“. Nach rechtsradikalen Gewalttaten besucht er zum Beispiel antifaschistische Gedenkstätten oder, wenn Salvini mal wieder keine Flüchtlinge an Land kommen lässt, Aufnahmezentren von Flüchtlingen oder Barackensiedlungen afrikanischer Landarbeiter. Am 2. Juni, dem nationalen Fest der Republik, erklärte er: „Heute ist das Fest aller, die in diesem Land leben, es ist auch den Migranten, den Roma und Sinti gewidmet, die hier wohnen und gleiche Rechte wie wir haben“. Ein kühnes Bekenntnis für ein Mitglied der Partei, die gemeinsam mit der Lega diese Werte und Grundsätze mit Füßen tritt. (Salvinis Kommentar: „So was geht mir auf die Eier. Demnächst kommt noch das Fest der Taschendiebe und Autoscheiben-Putzer“).

Weichenstellung im Herbst

Bis wann diese Regierung im permanenten Krisenmodus dauern kann, lässt sich nicht vorhersagen. Denn es hängt nicht allein von den Koalitionären ab, auch Staatspräsident Mattarella hat hier ein gewichtiges Wort mitzureden. Bei einer Regierungskrise muss er qua Amt entscheiden, ob er jemanden beauftragt, die Möglichkeiten einer anderen Regierungsbildung zu sondieren, oder ob er das Parlament auflöst und Neuwahlen ansetzt. Zurzeit scheint er dazu zu neigen, die Regierungskoalition weitermachen zu lassen. Nicht weil deren Kurs seinen politischen Überzeugungen entspricht, sondern weil er gegenwärtig vor allem verhindern möchte, dass die politische Instabilität zu einem noch größeren wirtschaftlichen Einbruch führt.
Schon bei der Antwort der Regierung auf den Mahnbrief der EU-Kommission brach das Chaos aus: Salvinis Leute hatten in den Entwurf die Andeutung hineingeschrieben, dass die flat tax ja auch durch Kürzungen im Sozialbereich (wozu Di Maios „Bürgereinkommen“ gehört) finanziert werden könnte. Als die 5-Sterne davon Wind bekamen, drängten sie Tria, diese Passage zu streichen. Nun enthält der Brief nur Floskeln und nebulöse Absichtserklärungen, die nicht ausreichen werden, um EU-Sanktionen zu vermeiden. Der „Spread“ (Schere zwischen dem Marktwert italienischer und deutscher Staatsanleihen) ist nach Bekanntwerden des Briefes wieder stark gestiegen. Wenn seriöse Finanzierungsvorschläge und Einsparungen ausbleiben, droht zudem ab 2020 die automatische Erhöhung der Mehrwertsteuer. Im Herbst steht das Haushaltsgesetz für 2020 an. Soweit es in seiner Macht steht, wird Mattarella versuchen, bis dahin Neuwahlen zu vermeiden. Danach kann sich die politische Lage schnell zuspitzen. Möglicherweise schon früher (s. u.).

PS: In einer für Montagabend (3. Juni) kurzfristig anberaumten Pressekonferenz erklärte Ministerpräsident Conte (nachdem er zuvor eine schwärmerische Bilanz der Regierungsarbeit gezogen hatte), dass er nur dann zur Weiterführung seines Amtes bereit sei, wenn – so sinngemäß – beide Regierungsparteien ihren Dauerstreit und ihre „Provokationen“ beenden. Er verlange von allen Regierungsmitgliedern die Respektierung der „institutionellen Rollen“ (v. a. wohl seiner), Verantwortung und „zuverlässige Zusammenarbeit“. Andernfalls werde er „sein Amt wieder in die Hände des Staatspräsidenten legen“. Salvini zeigt sich unbeeindruckt: „Ich bin ganz klar fürs Weitermachen. Aber wenn wir in den nächsten Wochen immer noch nur ‚Nein nein‘ (von der 5SB, Anm. MH) hören und nicht ‚Ja ja‘, dann haben wir ein Problem“.

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