Betrachtung am Rande

In Italien merkt man vielen Kommentatoren an, dass sie sich über die Wahlen des 4. März und ihre Folgen immer noch die Augen reiben. Der Haupteindruck, den unsere Freunde und Bekannten machen, ist dumpfe Orientierungslosigkeit. Ein Künstlerfreund von uns, ein alter PD-Wähler, erzählt uns trotzig, dass er diesmal die 5-Sterne-Bewegung gewählt habe. Glaubst Du, fragten wir ihn, dass die es besser machen werden? Er lacht nur höhnisch. Als wir insistierend weiterfragen, antwortet er: Um es denen da oben zu zeigen, nur deshalb habe ich die gewählt. Seht Euch doch meine Rente an, 800 Euro nach 40 Arbeitsjahren.

Der Chefredakteur der „Repubblica“, Mario Calabresi, sieht darin den Ausdruck „moderner Politik“ – er hätte auch sagen können, des Zeitgeists –, für die es nur noch „individuelle Interessen und keine kollektiven Hoffnungen“ mehr gibt. Da gebe es diejenigen, die auf ein Einkommen hoffen, weil sie arbeitslos sind; die Rentner, der auf die Erhöhung der Mindestrenten setzen; die Eltern, die sich weigern, ihre Kinder impfen zu lassen (weil sie den Horrorgeschichten glauben, welche Nebenwirkungen das habe) und nun auf das Ende des Impfzwangs warten; die sich etwas mehr Geld von der Einführung der flat tax oder etwas von der Rücknahme der Schulreform erwarten, die früher in Rente gehen oder keine Immigranten mehr auf der Straße sehen wollen.

Die Analysen, die davon sprechen, dass den Italienern nun einmal der Sinn fürs Gemeinwohl fehle usw., haben Hochkonjunktur. Man hört sie sich an wie im sonntäglichen Gottesdienst, wo der Pfarrer über den Zeitgeist herzieht, man mit dem Kopf nickt und hinterher in einen Alltag entlassen wird, an dem sich nichts verändert hat.

Ein Partikularinteresse …

Wir treffen sie, nennen wir sie Sandra, jedes Mal, wenn wir ein paar Stunden am Meer verbringen. Denn sie ist die Padrona des kleinen Strandlokals, das wir dann ansteuern, in dem es eine kleine Küche gibt, aus der wundervolle Spaghetti con Vongole kommen, und von dem aus lange Spaziergänge am Meer möglich sind. Sie ist jung, intelligent, lebhaft, schwarzhaarig und uns sehr sympathisch – letzteres, wir müssen es zugeben, auch deshalb, weil wir von ihr wussten, dass sie „links“ wählt. Im Unterschied zu ihrem Mann, nennen wir ihn Sergio, mit dem sie zwei Kinder hat und mit dem wir ebenfalls befreundet sind, der uns aber schon vor Jahren gestand, dass er seine Stimme Forza Italia gab – nicht weil ihn Berlusconi überzeugte, sondern weil dessen örtlicher Statthalter den Holzweg finanzierte, der am Strand entlang unter anderem zu ihrem Lokal führt, und ihm vielleicht – so unsere Spekulation – auch half, seine Konzession zu bekommen.

Als wir uns in diesem Frühjahr wiedersahen, konnte ich nicht an mich halten und fragte Sandra, was sie am 4. März gewählt hat. In der Erwartung, wenigstens bei ihr etwas von der Standhaftigkeit wiederzufinden, die sie (im Unterschied zu ihrem Mann) früher an den Tag gelegt hatte. Trockene Antwort, mit etwas Anlauf: „Ich habe Salvini gewählt“. Salvini, ausgerechnet Salvini? „Ich war lange unsicher und hatte dabei ein schlechtes Gefühl. Und werde es wohl auch nicht wieder tun. Aber er ist der einzige, der in sein Wahlprogramm schrieb, dass es mit ihm in zwei Jahren keine Versteigerungen gibt“.

… und eine europäische Drohung

Ja, sie haben uns schon früher erzählt, dass diese „Versteigerung“ immer noch wie ein Damoklesschwert über ihnen hängt. Es gibt offenbar eine Brüsseler Verordnung, nach der Konzessionen, wie sie unsere beiden Freunde haben, in regelmäßigen Abständen neu ausgeschrieben werden müssen – und dass sie dann der Meistbietende aus Italien oder einem anderen europäischen Land bekommt. So funktioniert Marktwirtschaft, Dummkopf. Wir wissen, dass die beiden, wie viele andere auch, sich an dieser Konzession festgekrallt haben, mit Hilfe von im Jahresverlauf Erwirtschaftetem und von Bankdarlehen, indem sie sich Schritt für Schritt Tische, Stühle, Liegestühle und Sonnenschirme anschafften, die Küche modernisierten und das Stabilimento immer mehr gegen die Winterstürme befestigten. Alle helfen mit: Sandra und ihre Mutter kochen, ihr Mann und ihr Vater beschäftigen sich mit den handwerklichen Arbeiten, alle kümmern sich um die Gäste und (nebenbei) um die Kinder.

Bevor sich Sergio auf dieses Unternehmen einließ, hat er nach Alternativen gesucht, arbeitsscheu ist er nicht. Und da es hier in der Gegend kaum Arbeit gibt, hat er im Sommer in Frankreich, im Winter in den Alpen gearbeitet (wo er Schier verlieh). Aber er wollte heiraten und sich hier in der Gegend eine Existenz aufbauen.

Der Entzug der Konzession würde all das entwerten, die Arbeit von mindestens 10 Jahren, und wäre wegen der Darlehen wahrscheinlich auch ihr Ruin. „Salvini hat als Einziger versprochen, dass es dazu nicht kommt“. Er kann sich das erlauben, er ist ja sowieso gegen Europa. Ein Europa, für das unsere beiden Freunde jedoch sind, und dessen Ende, wie Sergio mit Emphase sagt, ein „Desaster“ wäre. Übrigens auch im Eigeninteresse, denn zu Sergios und Sandras Stammkunden gehören nicht nur Italiener, sondern auch Deutsche, Engländer, Franzosen, Amerikaner.

Europäischer Konstruktionsfehler?

Für Europa zu sein, und trotzdem Salvini wählen, widerspricht sich das nicht? Und wie es sich widerspricht. Wenn da eben nicht dieses kleine erbärmliche Partikularinteresse wäre. Ich hätte dieses Wort gegenüber Sergio und Sandra als Vorwurf benutzen können, wir sind befreundet genug. Aber beim Blick auf sie, auf ihre Eltern und auf ihre Kinder blieb es mir im Halse stecken.

Abschließender Gedanke, vielleicht aus der Sympathie für beide geboren, aber trotzdem nicht ganz falsch: Könnte es sein, dass in der Schwierigkeit, für dieses „Partikularinteresse“ bei den europafreundlichen Parteien einen Lösungsansatz zu finden, ein grundsätzlicheres Problem steckt? Weil bei dem Brüsseler Ansatz, das Heil vor allem in der Marktökonomie zu suchen und ansonsten eine von der sozialen Realität weit entfernte Verordnungsmaschine zu sein, eben doch allzu viele „Partikularinteressen“ auf der Strecke bleiben? Womit dann, um wieder an Calabresi anzuknüpfen, auch manche „kollektive Hoffnung“ niedergewalzt wird. Aus der Forderung nach mehr „Flexibilität“, das heißt politischer Steuerung vor Ort, muss nicht nur der Hang zur Korruption sprechen. Wenn nur noch europafeindliche und xenophobe Populisten wie Salvini eine Antwort auf die Angst von Sergio und Sandra vor der Vernichtung ihrer Existenz geben, könnte dann nicht etwas faul in der EU sein?

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