Europa auf tönernen Füßen

Dass in diesen Wochen (bei den Koalitionsverhandlungen in Deutschland) und Monaten (bei den Wahlen in Italien) das Schicksal Europas am seidenen Faden hängt, scheint vielen noch nicht bewusst zu sein. Eigentlich liegt es auf der Hand, dass die langsame, aber scheinbar nicht aufzuhaltende Erosion der EU die falsche Antwort auf die Klimakatastrophe, die digitale Revolution, den Aufstieg Chinas, den Ausfall der USA, den Terrorismus und die weltweiten Fluchtbewegungen ist. Und eigentlich zeigte ja auch der unerwartete Erfolg Macrons bei den französischen Wahlen, dass der Vormarsch der Populisten umkehrbar ist, wenn man das Projekt eines vertieften Europas verfolgt, das handlungsfähiger als die Einzelstaaten ist.

Nachholende Demokratisierung tut not

Dass zu dieser Vertiefung der europäischen Zusammenarbeit auch die nachholende Demokratisierung gehört, ist ein wichtiger Teil von Macrons Botschaft. Der EU fehlt die demokratische Legitimation – Europakritiker wie Streeck sehen darin nur die böse neoliberale Absicht, Macron das Versäumnis einer ansonsten wohlmeinenden Avantgarde. Einen Geburtsfehler, der für die Weiterexistenz der EU immer mehr zur Gefahr wird, sich jedoch durch eine „Neugründung“ – vielleicht – noch beheben lässt.

(Zwar gibt es schon die Institution „Europawahlen“, an denen sich in Italien immerhin über 60 % der Wahlberechtigten beteiligen, während es in Deutschland nur die Pflichtübung einer Minderheit ist. Ihre Grenzen sind die beschränkte Kompetenz des Europaparlaments, die nationalen Kandidatenlisten und Horizonte der Wählenden. Sie folgen im Normalfall nur ihren nationalen Präferenzen. Wahlen, die das Wort „europäisch“ verdienen, sind es nicht).

Subalterne Rolle Europas im italienischen Wahlkampf

Solange sich an diesem Zustand nichts ändert, bleiben die nationalen Wahlen der entscheidende Gradmesser für das europäische Bewusstsein. Hier ist der Befund für Italien ernüchternd: „Europa“ spielt in dem italienischen Wahlkampf eine ähnlich marginale Rolle wie vor einigen Monaten in Deutschland, als ob es einen Macron nie gegeben hätte. In der „Repubblica“ bescheinigt Andrea Bonanni diesem Wahlkampf einen „Provinzialismus“, der „die europäische Bindung einfach ignoriert“. Dafür spreche
– auf der Rechten das „unnatürliche Bündnis“ zwischen dem erklärten Antieuropäer und Le Pen-Freund Salvini, der schon jetzt ankündigt, die 3%-Grenze für die Neuverschuldung des Staatshaushalts nicht einhalten zu wollen, wenn sie „den italienischen Familien schadet“, und einem Berlusconi, der nach Brüssel reiste, um unter dem Beifall der EVP das Gegenteil zu versprechen (aber Wahlversprechen macht, die jede Brüsseler Auflage durchbrechen);

– eine 5-Sterne-Bewegung, welche zwar heute verlauten lässt, mit Macron Europa „neu gründen“ zu wollen, aber im Europaparlament zu einer antieuropäischen Fraktionsgemeinschaft gehört und über den Euro heute hü und morgen hott sagt;

– eine PD, deren Sekretär nicht frei von opportunistischen Schwankungen gegenüber der EU war, bis auch er einen Moment lang träumte, in Macrons Fußstapfen treten zu können (wozu ihm allerdings alles fehlt, was die Phantasie der Wähler anreizen könnte, weshalb Emma Bonino sicherheitshalber die Liste „+Europa“ gründete, die nach den Umfragen zur Zeit mit 1,9 % Wählerstimmen rechnen kann);

– eine Linke, die unter ihrem Dach überzeugte Proeuropäer wie Laura Boldrini mit überzeugten Euro-Gegnern wie Stefano Fassina vereint.

Segen der Marginalisierung

Wahlkampf der Europa-Partei

Wahlkampf der Europa-Partei

Also zeigt sich zum Thema Europa in fast allen Formationen eine unausgegorene Mischung von Widersprüchen, die nur dann nicht zur Explosion kommen wird, wenn es auch in den nächsten Jahren für die italienische Politik marginal bleibt. Eine implizite Voraussetzung, aus der man eine Vorhersage ableiten kann: Von Italien wird auch in den nächsten Jahren kein Versuch ausgehen, die europäische Stagnation zu überwinden. Zwar bekundet Gentiloni seine ungebrochene EU-Treue und zeigt sich auch Renzi wieder als Europa-Befürworter. Aber dessen Bekundung, die „vereinigten Staaten von Europa“ seien „die Zukunft“, während „uns jede Stimme für die Rechte von Brüssel entfernt“, wird wohl eher als folgenloses Rauschen im Wahlkampf aufgenommen. Alles spricht dafür, dass sowohl die Rechte als auch die 5-Sterne-Bewegung die PD bei der Wahl deutlich überholen werden.

Europa befindet sich am Kreuzweg. Der Brexit, Osteuropa und zuletzt auch Österreich zeigen, dass die gegenwärtige Erosion nur in eine Richtung führen kann, in die langsame Selbstauflösung – wenn man an der europäischen Konstruktion nichts ändert. Es gab schon früher solche Kreuzwege, wo alle wichtigen Akteure Europas wie Schlafwandler in die Katastrophe marschierten. Die Selbstauflösung Europas würde sicherlich kurzfristig in keinen neuen Krieg führen, aber eine Katastrophe wäre sie trotzdem. Weil sie die wichtigste Lehre dieser Vergangenheit vergessen hätte.

Nachbemerkung zu Deutschland: Allein schon der Versuch einer Koalitionsbildung mit der FDP zeigte Merkels Bereitschaft, die weitere Stagnation Europas in Kauf zu nehmen. Auch hier können es die Widersprüche im eigenen Lager und in der eigenen Partei zum Thema Europa gewesen sein, welche die Stagnation als das vermeintlich kleinere Übel erscheinen ließen. Das dröhnende Schweigen zu den Macron-Vorschlägen, welches die Jamaika-Sondierungen begleitete, sprach bereits Bände. Das Scheitern dieser Sondierungen lag nicht an höherer (europäischer) Einsicht, sondern am Zufall: am Narzissmus eines Parteiführers, der die Runde vorzeitig verließ. Dass nun die SPD doch wieder einsteigt, ist nur die Folge. Ebenso wie es Zufall ist, dass ihre Führung dabei auch ihre europäische Ader wiederentdeckte, nachdem sie jahrelang behauptet hatte, dass „man mit diesem Thema keinen Wahlkampf gewinnen kann“. Der innerparteiliche Widerstand, der sich jetzt gegen die Wiederauflage der verhassten „Groko“ formiert, glaubt sich fortschrittlich, weil für ihn das Wohl der Partei das höchste Gut ist. Europa ist dagegen nur ein marginales Thema, für die Wiedergeburt der SPD bestenfalls ein Hindernis. Der Unterschied zwischen Rom und Berlin ist da nicht groß.