„Kulturelle Kapitulation“ – Gad Lerner verlässt die PD

Gad Lerner ist einer der profiliertesten Journalisten und der klügsten politischen Kommentatoren Italiens. Lerner und seine Familie sind multiethnisch geprägt, ihre Geschichte ist eine Geschichte von Migrationsbewegungen. Lerner wurde 1954 in Beirut/Libanon als Sohn einer jüdischen Familie geboren, die sich noch vor der Staatsgründung in Israel niedergelassen hatte. Seine Großeltern väterlicherseits kamen aus einem Städtchen, das jetzt zur Ukraine gehört. Sein Großvater mütterlicherseits war türkischer Staatsbürger, die Familie der Großmutter kam aus Litauen. Lerner, der als Dreijähriger nach Italien kam, war lange Zeit staatenlos. Mit 13 Jahren beantragte er die italienische Staatsbürgerschaft, die ihm rechtlich nach zehn Jahren Aufenthalt in Italien zustand. Aber erst infolge durch seine Heirat mit einer italienischen Staatsbürgerin konnte er sie (1986) erlangen.

Politisch war Gad Lerner zunächst in der außerparlamentarischen Linken (Lotta Continua) aktiv, später unterstützte er die linkskatholische Gruppierung „La Margherita“. Im Oktober 2007 gehörte er zu den Gründern des Partito Democratico. Er hat für die wichtigsten Zeitungen (u.a. L‘ Espresso und La Repubblica) und Fernsehsender gearbeitet und zahlreiche Bücher veröffentlicht.

Gad Lerner ist bevorzugtes Ziel widerwärtigster Beschimpfungen bis hin zu Mordrohungen, fast immer mit antisemitischem Bezug. Besonders Anhänger fremdenfeindlicher Parteien, allen voran die Lega und die 5-Sternebewegung, überfluten Lerners Blog und Facebook-Seite täglich mit rassistischen, antisemitischen und gewalttätigen Kommentaren.

Am 23. August begründete Lerner in der Zeitschrift „Nigrizia“ – der Zeitschrift einer missionarischen Organisation, die seit 1886 über die Entwicklungen im Afrikanischen Kontinent berichtet und in der Lerner eine regelmäßige Rubrik betreut – seinen Austritt aus der PD.

Wir veröffentlichen Lerners Erklärung – leicht gekürzt – in deutscher Übersetzung.

Im Jahr 2000 … hörte ich zum ersten Mal, wie ein bekannter italienischer Politiker (der Lega Nord, Anm. Red.) in den Fernsehnachrichten forderte, „wir müssen auf die Schlepperboote schießen, wir müssen sie versenken!“. Da ich damals den Tg1 (entspricht in Deutschland den ARD-Nachrichten, Anm. Red.) leitete, war ich gezwungen, dem Mann die Gelegenheit zu ein paar Minuten öffentlicher Aufmerksamkeit zu geben. Obwohl wir beide wussten, dass sein Spruch reine Stimmungsmache war. In den folgenden 17 Jahren wurde diese grandiose kriegerische Idee noch unzählige Male wiederholt, von den Führern ganz unterschiedlicher politischer Gruppierungen (von Mitterechts über Mittelinks bis zu den Grillini), aber immer voller Inbrust und immer vor laufenden Kameras. Ich wundere mich daher nicht, wenn in diesem Sommer ein Typ wie Salvini, der sich immer besonders besessen gibt, sogar die Versenkung der NGOs-Rettungsschiffe verlangte, die nach seiner Meinung mit den Schleppern gemeinsame Sache machen.

Gad Lerner

Gad Lerner

Der vermeintliche Notstand, der die italienische Halbinsel erfasst habe soll, als werde sie von unaufhaltsamen Horden von Migranten überfallen, wird zwar durch die Zahlen dementiert, aber von einem Teil der Presse immer wieder heraufbeschworen. Stets mit dem Hinweis auf die „gefühlten Zahlen“, mit dem sich die Realität so gut manipulieren lässt. Er entpuppt sich als das, was er tatsächlich ist: kein „Flüchtlingsnotstand“, sondern ein „Notstand Wahlen“. Wenn sich Zeitungen und Fernsehen als Lautsprecher derjenigen anbieten, die von Invasion faseln, und die Italiener sich überfallen fühlen, dann fangen leider auch Politiker jeder Couleur an, wie Automaten in den Refrain „Stoppt die Invasion“ einzustimmen.

Das ist es, was derzeit im Gange ist, und daraus müssen wir Schlüsse ziehen. Für mich war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, die Diffamierungskampagne gegen die NGOs, die sich in der Seenotrettung engagieren. Eine Kampagne, die in der Beschuldigung kulminierte, sie machten mit den Schleppern gemeinesame Sache. Und die auf Regierungsebene in die Forderung mündete, die NGOs hätten bei ihrer Aktivität Einschränkungen zu akzeptieren, die weder durch das internationale Recht noch durch die Regeln der Seenotrettung gedeckt sind.

… Fast am Ende dieser Legislaturperiode ist nun auch für mich der Augenblick gekommen, meine persönliche Bilanz zu ziehen. Und zwar zu Themen, die ich für entscheidend halte: Menschenrechte, Bürgerrechte, gegenwärtige und künftige Beziehungen zwischen beiden Ufern des Mittelmeers, effektive Bekämpfung des Terrorismus. Nicht nur als Jude, früherer Staatenloser und glücklicher Nachkomme mehrerer Migrationen. Sondern gerade auch als italienischer Staatsbürger, der vor zehn Jahren einer der Mitgründer des Partito Democratico war, einer Partei, deren Gründungswerte ich heute aus Opportunismus entstellt sehe.

Ich nenne, der Reihe nach, die Etappen der vergangenen drei Jahre: Suspendierung der Aktion „Mare Nostrum“ mit der Begründung, sie sei zu teuer, mit der anschließenden Beschränkung des Aktionsradius unserer Marine. Opportunistisches Abrücken davon, den Straftatbestand der illegalen Einwanderung abzuschaffen. Streichung des Rechts, bei negativem erstinstanzlichem Urteil in die Appellation gehen zu dürfen – nur für diejenigen, die Asyl beantragen. Das nicht gehaltene Versprechen eines moderaten jus soli. Und schließlich die unerhörte und perverse Konstruktion einer „humanitären Straftat“, die sich gegen die NGOs richtet (eine ‚humanitäre Straftat‘ nennt man neuerdings in Italien das, was z. B. der Besatzung der ‚Juventa‘ vorgeworfen wird: Begünstigung der illegalen Einreise nicht aus Profitinteresse, sondern aus humanitären Gründen, Anm. Red.).

Hinter dieser Sequenz wird eine reale kulturelle Kapitulation erkennbar. Viktimismus. Suche nach Sündenböcken. Grobe Verzerrung der komplexen Realität in Afrika, mit der wir uns ernsthaft auseinandersetzen sollten. Alles begleitet von einer bestürzenden psychologischer Unterwerfung unter rechte Parolen…

Mir ist durchaus bewusst, wie wichtig innerhalb einer so großen und heterogenen Partei die Einheit ist. Und ich weiß auch, dass es in der PD immer noch viele gibt, denen die Werte am Herzen liegen, die heute so pervertiert werden. Ich war gegen die Abspaltung (der linken PD-Minderheit, Anm. Red.) und sah auch im Dissens über die Verfassungsreform und den „jobs act“ keinen ausreichenden Grund für einen Austritt. Aber aus Achtung gegenüber Werten, die für mich fundamental sind, sehe ich jetzt leider keinen anderen Weg mehr, als die Partei zu verlassen, in der ich seit ihrer Gründung aktiv mitgearbeitet habe. Die Rückentwicklung der Politik der PD in Fragen der Menschen- und Bürgerrechte ist für mich zu eine Hürde geworden, die nicht mehr zu überwinden ist.

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