Micheles Tod

Demonstration gegen das Prekariat

Demonstration gegen das Prekariat

Wenige Stunden bevor er sich am 31. Januar erhängte, schrieb Michele Valentini einen Abschiedsbrief. Er lebte im norditalienischen Friaul, war von Beruf Grafiker und gehörte wie Hunderttausende andere jüngere Italienerinnen und Italiener zum Prekariat: ohne feste Anstellung, Beschäftigung bestenfalls mit Honorarverträgen, demütigende Aufträge, ohne Perspektive. Der Eindruck, den sein Abschiedsbrief hinterlässt, ist zwiespältig. Einerseits appelliert er an das Mitgefühl mit einer beruflichen Misere, die das Selbstwertgefühl nimmt. Andererseits auch gekränkter Narzissmus: Zur beruflichen Misere gesellte sich offenbar eine Enttäuschung mit dem anderen Geschlecht, eine Erfahrung, was ins Kosmische überhöht wird: Ihn habe „eine Epoche verraten, die es sich erlaubt, mich beiseite zu schieben“. Er deponierte den Brief dort, wo er gefunden werden musste, sein Vater leitete ihn an die Medien weiter. Und lieferte den Kommentar mit, druckreif für die Redaktionen: Michele sei „ein Junge der verlorenen Generation, der als persönliche Niederlage erlebte, was in Wahrheit die Niederlage einer sterbenden Gesellschaft ist, die ihre eigenen Kinder verschlingt“.

Poletti, Elefant im Porzellanladen

Es traf einen Nerv, mit viel Widerhall in den Zeitungen und sozialen Netzwerken. Ihr Tenor war die Anklage gegen die verantwortliche Politik – auch der TAZ-Korrespondent, der am 9. Februar berichtete, lag auf dieser Linie. Die Fährte legte Michele Valentini selbst, indem er seinem Brief ein PS mit sarkastischen „Komplimenten“ für Arbeitsminister Poletti anhängte. Der hatte sich kurz vor Weihnachten verächtlich über junge Leute geäußert, die Italien verlassen, um woanders einen Job zu finden; in Italien werde man „ihnen keine Träne nachweinen“. Er sieht in ihnen wohl Vaterlandsverräter. Womit Poletti vor allem etwas über sich selbst verriet: nationale Borniertheit, Unfähigkeit zu sozialer Empathie. Was ihn nicht gerade qualifiziert, in einer proeuropäischen Regierung Arbeits- und Sozialminister zu sein (vor dem Parlament hat er sich inzwischen entschuldigt).

Als man herausfand, dass Poletti dem eigenen Sprössling längst einen festen Job in Italien verschafft hat – als Chefredakteur der Zeitung einer Genossenschaft, deren Präsident Poletti war, bevor er Minister wurde –, stieg die Empörung weiter (die Genossenschaft wird mit Steuergeldern subventioniert). Dass Eltern Beziehungen nutzen, um ihre Kinder zu versorgen, ist nicht nur in Italien üblich. Aber die wenigsten haben sie. Dann moralisch über diejenigen herzuziehen, die ins Ausland gehen, ist Heuchelei.

Wer ist „schuld“?

Dass Michele Valentini in seinem Abschiedsbrief auf diese Affäre anspielte, war ein Stück Effekthascherei. Aber es zeigt die Mechanik politischer Schuldzuweisungen, in die schon die Regierung Renzi geraten war. Vor drei Jahren trat er sein Amt mit der Verheißung an, nun werde sich alles ändern, gerade auch für die Jüngeren. Womit er zunächst Eindruck machte: Bei den Europawahlen von 2014 erreichte die PD (auch dank der Jungwähler) 41 %, Grillos 5-Sterne-Bewegung nur 25 %. Aber in den Folgejahren kam die Enttäuschung: Ein großer Teil der Jüngeren lebt weiterhin im Prekariat, die Arbeitslosenrate der unter 25-Jährigen verharrt bei 40 %. Die Rechnung wurde Renzi präsentiert, als das Referendum im vergangenen Dezember zur Abstimmung über seine gesamte Politik wurde. 60 Prozent stimmten gegen ihn, in der Alterskohorte „unter 35“ sogar 70 Prozent.

Renzi ist nicht der alleinige Schuldige. Die Ursachen liegen auch bei der Wirtschaft – sie stagnierte schon zu Zeiten Lettas, Montis und Berlusconis. Zwar ist für die immense Staatsverschuldung in erster Linie die Politik verantwortlich, aber hier reicht die Ahnengalerie noch weiter in die Vergangenheit zurück. In Verbindung mit den Brüsseler Sparauflagen ist diese Verschuldung zu einer Erblast geworden, die jede Regierung wirtschaftspolitisch fast bewegungsunfähig macht. Als Renzi zurücktrat, hatte auch er es nicht geschafft, die Stagnation zu überwinden. Ob es die Regierung Gentiloni schafft, ist fraglich.

Leben in der Dissonanz

Man kann sich vorstellen, was dies für die jüngere Generation Italiens bedeutet. Wer durch die reichen Einkaufsstraßen Roms, Mailands oder Bolognas geht, den erschlägt der Luxus, in dem offenbar immer noch ein (wenn auch schrumpfender) Teil der italienischen Gesellschaft lebt. Die jüngere Generation verfügt zwar über eine schulische und universitäre Ausbildung, die mit der Ausbildung in Deutschland durchaus vergleichbar ist, lebt aber in Unsicherheit und Existenzangst. Für sie ist dieser Kontrast eine schrille Dissonanz. Die soziale „Wut“, von der im Ausland Trump und Le Pen, im Inland Salvini und Grillo profitieren, wird in Italiens Jugend ständig neu geladen.

Ist das ein „Systemversagen“? Eine Gesellschaft, die eigentlich über Reichtum verfügt, aber ihn so verteilt, dass dem Überfluss immer mehr Ausgrenzung, Überflüssigkeit und nackte Armut gegenübersteht, ist zumindest krank. Ebenso wie eine Gesellschaft, die unfähig ist, die Arbeit gleichmäßig auf alle im arbeitsfähigen Alter zu verteilen, und die bei den jüngeren Menschen Qualifikationen schafft, ohne diese noch abrufen zu können.

Europa bedeutete einmal die Hoffnung auf Frieden, Demokratie und sozialen Ausgleich. Heute, so scheint es, ist es zum Motor des Rückschritts geworden. Die „alternativlose“ Brüsseler Austeritätspolitik zerstört Italien wirtschaftlich, sozial und politisch. Vor allem für die jüngere Generation stirbt die Hoffnung auf ein solidarisches Europa, das sich um seine Peripherie ebenso kümmert wie um sein Zentrum. Bleibt Europa auf diesem Kurs, wird ihm in Italien bald niemand mehr „eine Träne nachweinen“.

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