Auf der Suche nach der nicht vorhandenen Solidarität

Die EU nennt sich „Gemeinschaft“, sie fordert und verspricht Solidarität. Leider muss sich Solidarität nicht nur in Worten, sondern auch in Taten beweisen.

Ende Januar wurde der italienische Forscher Giulio Regeni in Kairo bestialisch ermordet. Vieles spricht gegen einen „gewöhnlichen“ Mord. Die Autopsie ergab, dass er über mehrere Tage hinweg gefoltert wurde, bevor man ihm das Genick brach. Offenbar wollte man aus ihm Informationen herausholen. Der Verdacht gegen den ägyptischen Geheimdienst verdichtete sich, je mehr man über den Fall erfuhr: Regeni sammelte Material für eine Forschungsarbeit über den ägyptischen Widerstand. Dass das Al Sisi-Regime im Kampf gegen die Opposition vor nichts zurückschreckt, auch nicht vor Mord, hat es gegen das eigene Volk zur Genüge bewiesen. Neu ist, dass es jetzt auch europäische Bürger trifft.

Verschleierung um jeden Preis

Den deutlichsten Hinweis auf die wahren Verantwortlichen liefert das Regime selbst, seitdem es mit allen Mitteln zu verhindern sucht, dass die römischen Staatsanwälte, die den Fall untersuchen, zu irgendwelchen Ergebnissen kommen. Zunächst, indem es in rascher Folge verschiedene „Täter“ präsentierte, die alles, nur keine Geheimdienstler waren: Verkehrsunfall, gemeine Verbrecher, Leute aus dem Drogen- und Schwulen-Milieu, zuletzt fünf bereits erschossene (ergo nicht vernehmbare) Mitglieder einer „Bande professioneller Entführer“. Aber warum gaben Kairoer Überwachungskameras, die eigentlich das Kidnapping hätten registrieren können, im entscheidenden Moment den Geist auf? Und warum weigerte sich das ägyptische Justizministerium so lange, die Liste der Telefonate herauszugeben, die Regeni vor seinem Verschwinden führte? Mit der Erklärung, dass die ägyptische Verfassung nun einmal die Herausgabe „persönlicher Daten“ verbiete. Auch bei Mord? Anfang Mai wurde bekannt, dass der ägyptische Generalstaatsanwalt ein generelles Informations- und Publikationsverbot über alles, was im Zusammenhang mit dem Fall Regeni steht, erlassen hat.

Die Reaktion Italiens

Die italienische Reaktion war zunächst zwiespältig. Einerseits, erklärte Außenminister Gentiloni, müsse der Tod Regenis „geklärt“ werden, anderseits bleibe Ägypten Italiens „strategischer Partner“. Als Realpolitiker hatte er wohl die gleiche Hoffnung wie Al Sisi, nämlich dass man das Problem irgendwie aussitzen könne. Aber in Italien ebbte die Welle der öffentlichen Empörung nicht ab. Als nicht mehr zu übersehen war, dass Kairo nicht das geringste Interesse an der Aufklärung hat, musste die italienische Regierung reagieren und ihren Botschafter in Kairo zurückrufen, „zu Konsultationen“, wie es hieß, und alle Geschäfte mit Ägypten vorerst auf Eis legen. Italien hoffte wohl, damit eine Bresche in die Mauer zynischer Verweigerung schlagen zu können. Was allerdings vorausgesetzt hätte, dass auch die anderen europäischen Länder Interesse am Fall Regeni zeigen. Denn als Bürger Italiens war er ja auch ein Bürger Europas, mit einem Forschungsjob in Cambridge, Thema Menschenrechte. Europäischer geht es kaum.

„Europäische Solidarität“

Nun wurde aus dem ägyptischen ein europäischer Skandal. Ein wenig Rückgrat zeigte noch der englische Außenminister, der am 12. April Ägypten zur vollständigen und transparenten Untersuchung des Falls aufforderte. Und zur Ehre des Europaparlaments sei gesagt, dass es im März eine Resolution zu Regeni verabschiedete und einen Monat später Straßburger Parlamentarier ein Spruchband mit der Forderung „Wahrheit für Giulio Regeni“ hochhielten. Das waren Bekundungen, als solche kostbar, aber ohne Konsequenz. Denn als es um Taten ging, zeigten die europäischen Regierungen, was die Solidarität wert war.

Herzliches Einvernehmen

Herzliches Einvernehmen

Am 18. April reiste eine Delegation Frankreichs unter Führung von Hollande nach Kairo: Es ging um Geschäfte (u. a. 6 Korvetten im Wert von einer guten Milliarde). Von Ägyptens „Menschenrechtslage“ war am Rand die Rede, vermutlich deshalb, weil die New York Times am 15. April ein böses Editorial über das französische Verhalten veröffentlicht hatte. Frankreich schien die italienisch-ägyptische Krise vor allem als Chance zu sehen, um mit Ägypten noch bessere Geschäften zu machen.

Und Deutschland?

Zeigte wenigstens Deutschland, die „europäische Führungsmacht“, dass sich die EU für jeden ihrer Bürger verantwortlich fühlt und ein Menschenleben einen unverhandelbaren Wert darstellt? Durch Druck, diplomatische Schritte, weniger Geschäfte?

Seit Regenis Ermordung war Bundesinnenminister de Maizière zweimal in Ägypten, Ende März und Ende April. Auch er scheint Regeni kaum erwähnt zu haben – zumindest in der Öffentlichkeit, wo es wehtun könnte. Stattdessen erklärte er: „Ägypten ist für Deutschland ein Schlüsselland – historisch, politisch und geografisch. Das Land ist ein unverzichtbarer Verbündeter im Kampf gegen den internationalen Terrorismus und auch im Kampf gegen die irreguläre Migration“. Unbedingt zu verhindern sei, „dass Libyen wieder zum Hafen für Flüchtlinge wird, die Europa übersetzen wollen. Das werden wir in Ägypten verhindern“. In Ägypten! Für die deutsche Politik ist jeder ein Freund, der ihr die Flüchtlinge vom Leibe hält. Welches Regime auch immer. Sie weiß, bei wem in Nordafrika der Hammer hängt. Dafür schaut man auch schon mal über ein paar Leichen hinweg.

Da wollte auch Sigmar Gabriel, deutscher Wirtschaftsminister und SPD-Vorsitzender, nicht zurückstehen. Fast zeitgleich mit Hollande reiste er mit 120 Unternehmensvertretern an, um Al Sisi die Aufwartung zu machen. Er brachte 4 deutsche U-Boote mit, bot Hilfe gegenüber Gläubigerstaaten an und zeigte Interesse an der Grenzsicherung. Auf einer Pressekonferenz erklärte er: „Wir haben ein Rieseninteresse daran, dass das Land stabil bleibt“. Garniert mit einem persönlichen Kotau: „Ich finde, Sie haben einen beeindruckenden Präsidenten“.

Rückendeckung für Al Sisi auch gegen ägyptische Menschenrechtler

Hollande, De Maizière und Gabriel fielen damit nicht nur Italien in den Rücken. In Ägypten gibt es eine Menschenrechtsbewegung, die in ihre Proteste inzwischen auch den Fall Regeni einbezieht. Sie zeigt die Solidarität, zu der unsere Regierungen unfähig sind, obwohl dabei die Aktivisten ihre Freiheit und in vielen Fällen auch ihr Leben riskieren. Als die französischen und deutschen Delegationen Al Sisi hofierten, hatte dieser gerade wieder Rechtsanwälte und Journalisten verhaften lassen. So in der Nacht vom 25. April auch Ahmed Abdallah al-Sheikh, den Vorsitzenden der ägyptischen Kommission für Recht und Freiheit, den sich die Familie Regeni zum Berater im Fall ihres Sohnes auserkoren hat.

Solidarität in Kairo

Solidarität in Kairo

Ist das „Realpolitik“? Es gab in den letzten Jahren Momente, in denen ich dachte, wieder ein wenig stolz auf Deutschland sein zu können. Aber da ist er wieder, der alte Brechreiz, den ich auch bei mir für überwunden hielt. Das europäische Bewusstsein? Habermas hatte mal die Idee, jeder Bürger Europas solle zwei Staatsbürgerschaften erhalten: die seines Landes und die Europas. Das entsprechende Bewusstsein, meinte er wohl, werde sich schon bilden. Ich fürchte, es war nur so eine Idee.

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