Die Menschen sind nachrangig

Es begann mit dem Dekret, das die Regierung Renzi am 22. November 2015 erließ, um vier kleinere italienische Banken, die ins Rutschen geraten waren, vor dem Bankrott zu retten. Es endete mit einem Selbstmord, wütenden Demonstrationen und einer angeschlagenen Regierung.

„Rettung“

Eigentlich handelt es sich bei den 4 Banken um „kleine Fische“, die zusammen nicht einmal 1 % des italienischen Bankenvermögens repräsentieren: Banca Marche, Banca Popolare dell’Etruria e del Lazio, Cassa di Risparmio di Ferrara, CariChieti. Aber bei ihrer „Rettung“ wurde die Lehre durchexerziert, die die europäischen Aufsichtsbehörden aus der Finanzkrise von 2008 zogen: keine „Rettung“ mehr mit Steuergeldern. So wurde sie zu einem Lehrstück darüber, welche Folgen es für private Sparer haben kann, ihr Geld in Aktien und Obligationen der „Bank vor der eigenen Haustür“ anzulegen, weil sie glauben, dass sie gut und sicher sind.

Das Regierungsdekret hielt sich an diese Lehre, aber versuchte zugleich, den Schaden für die Kunden und Gläubiger der Banken in Grenzen zu halten. Denn eigentlich erlauben es die neuen europäischen Regeln, in solchen Fällen nicht nur die Aktionäre und Anleihen-Geber, sondern auch Bankkunden (Kontokorrentinhaber mit über 100.000 €) zur Kasse zu bitten. Das Dekret jedoch tastete die Guthaben der Kontokorrentinhaber und „normalen“ Anleihen nicht an. Die Rettung soll nun mit einigen Mrd. Euro aus einem gemeinsamen Fonds des italienischen Bankensystems finanziert werden. Andererseits sollen aber auch Privatanleger einbezogen werden, nämlich diejenigen, die sich Aktien oder sog. „nachrangige Anleihen“ der Banken gekauft hatten. Diese waren am 23. November plötzlich nicht mehr das Papier wert, auf denen sie gedruckt waren.

Empörung

Die "Nachrangigen"

Die „Nachrangigen“

Das Ergebnis war ein Aufschrei der Empörung, vor allem seitens der Besitzer nachrangiger Anleihen. Ihre erbitterten Demonstrationen sind bis heute noch nicht abgeebbt. Ihr dramatischer Höhepunkt war der Selbstmord eines Rentners, der seine ganze „Liquidazione“ (im Arbeitsleben zurückgehaltener Lohn, der an dessen Ende ausgezahlt wird) in solchen Anleihen angelegt hatte. Im Abschiedsbrief schrieb er, der „Betrug“ seiner Bank habe ihm seine „Würde“ genommen. Als dann noch bekannt wurde, dass der Vater von Elena Boschi, eine wichtige Ministerin in Renzis Regierung, früher Vize-Präsident der „Etruria“ war, öffnete dies den Verschwörungstheoretikern alle Schleusen: Das Dekret sei maßgeschneidert für Boschis Vater (wofür es keine realen Anhaltspunkte gibt), und Lega-Chef Salvini erklärte Renzi persönlich zum Mörder des Rentners. Etwas zurückhaltender agierte die 5-Sterne-Bewegung, die im Parlament einen Misstrauensantrag gegen Boschi einbrachte, weil sie sich wegen ihres Vaters in einem objektiven „Interessenkonflikt“ befinde. Der Misstrauensantrag fand keine Mehrheit, aber an Renzi blieb „etwas hängen“, zumal er bei früheren Regierungsmitgliedern, die wegen der Affären von Verwandten gehen mussten, schärfere Maßstäbe angelegt hatte.

Schuld

Aber zurück zur Kernfrage: Hat man bei dieser Banken-„Rettung“ denjenigen, die dabei ihr Geld verloren, Unrecht getan? Als ich zum ersten Mal von dieser Affäre hörte, glaubte ich: Wer sich von den Banken solche „nachrangigen Anleihen“ kauft, hat selbst Schuld. Nicht umsonst gilt er im Banken-Jargon nicht als „Sparer“, sondern als „Investor“. Und wenn es dann auch noch „nachrangige“ Anlagen sind, investiert er ins Risiko. Denn „Nachrangigkeit“ bedeutet gerade, dass im Fall einer Insolvenz aus der Insolvenzmasse erst andere Gläubiger bedient werden. Was für einen selbst den Totalverlust bedeuten kann. Wegen dieses Risikos lockt die Bank ja auch bei solchen Anleihen mit höheren Zinsen. Wer dafür sein Erspartes einsetzt, spielt ganz bewusst russisches Roulett. Und wer dann Zeter und Mordio schreit, weil er alles verloren hat, sucht die eigene Schuld mal wieder bei anderen.

Ich machte mir die Sache zu einfach. Denn zu den Sparern, die sich ködern lassen, gehören die Banken, die die Köder auslegen. „Il Sole 24 Ore“ berichtet, dass beispielsweise die Banca Etruria 2012 begann, ihre Liquidität systematisch durch „nachrangige Anleihen“ aufzustocken. Es war das Jahr, in dem ihr die Rating Agentur Fitch die (schlechte) Note BB+ gab, weil sie auf einem gewaltigen Berg von „faulen“ Krediten saß. Sie musste ihre Liquidität erhöhen, aber aufgrund des schlechten Rating wollte sie Anleihen bei „institutionellen“ Anlegern vermeiden (man sprach von ca. 7 % Zinsen). Also „Strategiewechsel“: Jetzt wurde das Geld über Kleinanleger eingesammelt, die sich auf einem Markt, in dem die Sparzinsen gegen Null gehen, von 4 % Zinsen blenden lassen. Nach dem Motto: Kleinvieh macht auch Mist. Aber dafür musste es viel Kleinvieh sein.

Menschenjagd

Wie dies umgesetzt wurde, schilderte ein geschwätziger Filialleiter der Banca Etruria: „Die Bankangestellten bekamen Geldprämien für ihre wöchentlichen Umsätze. Die Menschenjagd begann: vor allem auf ältere Kontoinhaber, in Pflegeheimen oder Altersheimen… Wir schlugen allen nachrangige Anleihen vor und versicherten, das Risiko sei Null… Es waren vor allem Leute, die von Finanzdingen keine Ahnung hatten und denen wir alles hätten erklären müssen. Was aber nicht geschah. Viele von ihnen wussten nicht einmal, was sie da unterschrieben“.

Also „selbst schuld“? Das Wort bleibt einem im Halse stecken. Was ist die „Schuld“ eines Rentners, der seine kleinen Ersparnisse dort anlegt, wo es ihm sein Bankberater rät („absolut sicher“), den er seit Jahrzehnten persönlich kennt und der ihm dabei gerade in die Augen schaut? (Ihm schwant wohl, dass sein Kunde das Risiko nicht ernst nimmt. Aber sein Job hängt daran, und außerdem glaubt er es vielleicht selbst).

Als Korrektiv für solche Fälle gibt es eine Bankenaufsicht – die massierte Einwerbung von „Nachrangigen“ hätte sie alarmieren müssen. Aber sie versagte. Angesichts des Volkszorns und des Toten wird nun versprochen, man werde unnachsichtig allen Fällen von vernachlässigter Aufsichtspflicht und von „Betrug“ nachgehen (man darf gespannt sein, wo ihn das geltende Recht beginnen lässt). Damit man der Politik keine Untätigkeit vorwerfen kann, hat das Parlament eine Kommission eingerichtet, welche die Schwachstellen des italienischen Bankensystems und ihre Entstehung ans Licht fördern soll. In einem Jahr soll sie ihre Ergebnisse vorlegen. Damit ist erst mal Zeit gewonnen.

Barmherzigkeit

Und was geschieht mit denen, die nun ihr Geld verloren haben? Es sind, so wurde errechnet, gut 10.000 Personen, die den vier Banken in dieser Form insgesamt 788 Mio. € liehen. Sie haben ihr Geld verloren, aber zur katholischen Pfadfinderehre von Renzi gehört es, gegenüber denen, die es am schlimmsten getroffen hat, ein wenig Barmherzigkeit zu üben. So wurde ein „Solidaritätsfonds“ eingerichtet, der mit 100 Mio., also einem Achtel der verbrannten Summe, ausgestattet wurde. Aus „humanitären“ Gründen soll den ruinierten Kleinsparern unter bestimmten Bedingungen ein Teil der verlorenen Ersparnisse erstattet werden: wenn sie nachweislich über wenig Vermögen verfügen und davon auch noch den größten Teil in die nun wertlos gewordenen „Nachrangigen“ steckten. Dass darin auch eine Demütigung steckt, dafür scheinen weder Renzi noch Brüssel ein Sensorium zu haben.