Habermas, wo bist Du?

Meine ersten Erfahrungen mit der Kultur des Disputierens machte ich am familiären Esstisch. Mein Vater war ein humanistisch geprägter Pädagoge, Variante norddeutsch-protestantisch. Wo wir Deutschen „Kultur“ sagen, erklärte er mir, sprächen die romanischen Völker von „Zivilisation“. Höchst bedeutsam sei das! Zivilisation betreffe das Äußerliche, Kultur das Tiefe. Kultur sei z. B. die geistvolle Unterhaltung bei Pellkartoffeln und saurem Hering, egal worüber. Einem kultivierten Menschen brauche man nur ein Thema zu sagen, und er spreche darüber mit Tiefgang. Im Idealfall auf Griechisch, ersatzweise auf Latein. Da ich zu beidem unfähig war (ich hatte Latein zwar als Wahlfach, war aber zum Vokabellernen zu faul), solle ich zumindest auf Deutsch das Thema des jeweiligen Tischgesprächs vorgeben. „Sag ein Thema“ wurde für mich zur ersten Begegnung mit der „Kultur“: eine Mischung von schlechtem Gewissen (schuldhafte Unkenntnis alter Sprachen), saurem Hering und lästiger Pflicht. Eigentlich wollte ich nur meine Ruhe und raus zum Fußballspielen.

Deutsche Innerlichkeit

Deutsche Innerlichkeit

Da ich trotzig war, verstummte ich, wo ich konnte. Aber etwas blieb hängen. Als ich später Habermas las, konnte ich mir schnell einen Reim machen: Im herrschaftsfreien Disput unterwirft man sich dem besseren Argument, und es gibt Fortschritt. Das hatte wohl auch mein Vater gemeint. Zwar war die Herrschaftsfreiheit bei ihm ein wenig fiktiv. Aber ein Stückchen Freiheit war eingeplant: Ich sollte ja das Thema vorgeben.

Italienische Tischgespräche

Leider überlebte der Anspruch auf Universalität, den ich bei Habermas zu finden glaubte, nicht meine ersten Reisen über die Alpen. In Italien führte mich M. an ihren familiären Esstisch, um den sich meist zehn Leute versammelten. Da wurde politisch disputiert, dass sich die Balken bogen (68er-Zeit). Ein Höllenlärm. Jeder am Tisch hatte einen Partner, auf den er laut einredete. Da ich als Newcomer zeigen wollte, dass ich auch da war, wartete ich auf eine Pause. Aber die kam nicht. M., die meine vergeblichen Anläufe bemerkte, schrie dazwischen: „Einen Moment mal, H. will auch was sagen“. Ich komme aus einem Land, in dem man gewohnt sei, dass immer nur einer rede (fügte sie ein demütigendes „Poverino“ hinzu?). Alle schauten mich einen Moment lang verblüfft an. Aber während ich noch meine italienischen Brocken zusammen klaubte, begann schon wieder das Geschrei. Ich konnte meinen Satz nur dann zu Ende bringen, wenn ich mich taub stellte und selbst einen Gesprächspartner fixierte, um auf ihn einzureden. Indem ich also tat, was die anderen taten.

Hinterher sinnierte ich: Läge Habermas im Grab, würde er sich umdrehen. Hier dient die Rede der Expression, nicht dem Disput. Sie streiten über Politik, ohne dass ein Standpunkt dem Risiko der Veränderung ausgesetzt wird. Ein Rätsel, warum sich hier im Laufe der Zeit überhaupt ein Standpunkt verändert. In solchem Geschrei ist es unmöglich.

Der „Intervento“

Zu Beginn der 80er Jahre nahm ich an einer Tagung des Turiner Goethe-Instituts teil. Ich glaube, es ging um Industriesoziologie. Der Programmzettel versprach nach dem Hauptreferat den „Intervento“ eines berühmten Professors. Sein Beitrag wurde mit Spannung erwartet, das Auditorium war voll. Es begann damit, dass der berühmte Mann erst anderthalb Stunden nach dem Hauptreferat erschien. Er knöpfte sich den Mantel auf (in Turin kann es kalt sein), trat ans Mikrofon, redete 20 Minuten, entschuldigte sich, dass er weg müsse, knöpfte sich den Mantel wieder zu und verschwand. Ich war verblüfft und empört. Mein Nachbar murmelte „bellissimo“.

Damals begegnete ich erstmals dem „Intervento“, einer italienischen Spezialität, die zum akademischen Ritual gehört. Er findet meist nach einem größeren Vortrag statt, an dem Ort, den man anderswo „Diskussion“ nennt. „Intervento“ bedeutet wörtlich Dazwischenkommen, im weiteren Sinn Eingreifen. Wobei unbestimmt bleibt, in was eingegriffen wird: die Debatte um das eben gehörte Referat, das gegenwärtige italienische Geistesleben, den Weltlauf insgesamt. Der „Intervento“ ist in sich geschlossen, autark und möglichst „bellissimo“. Wie ein Pflock, der samt Markierung in den Boden gerammt wird. Da steckt er nun – sollen die anderen sehen, was sie damit anfangen und wo sie ihre eigenen Pflöcke einrammen. Fortschritt besteht hier nicht in interaktiver Verständigung (Habermas). Sondern im Abstecken markierter Claims, die der Zuhörer sinnend durchwandern darf.

„Bellissimo“

Zum „Intervento“ passt „bellissimo“ wie der Deckel auf den Topf. Es gibt ihm die Weihe, die ihn endgültig gegen jede dialogische Versuchung abdichtet. Kürzlich gab es in Rom eine Lampedusa-Lesung, an deren anschließender Diskussion ich als Vertreter der hannoverschen Projektgruppe teilnehmen sollte. Da ich unsicher war, was mich erwartete, hatten wir uns eine halbe Stunde vor Beginn mit der Moderatorin verabredet, um zu klären, in welche Richtung die Diskussion laufen könnte. 5 Minuten vor Beginn wurde ich ihrer endlich habhaft. Offenbar erfuhr sie erst von mir, welche Rolle ihr zugedacht war. Sie fasste sich schnell und verteilte routiniert „Interventi“, darunter einen an mich. Kein Wort über die Richtung der Diskussion. Was, wie sich bald herausstellte, auch völlig überflüssig war.

Zuerst kam eine junge „Volontaria“, Typ rasende Helferin. An der Lesung habe sie, weil noch im Einsatz, leider nicht teilnehmen können, weshalb sie auch gleich wieder weg müsse. Also improvisierte sie irgendetwas. Großer Beifall. Dann kam ich. Ich sagte etwas über die Entstehung der hannoverschen Gruppe und die Rolle des Projekts in der deutschen Zivilgesellschaft. Noch während ich redete, wurde mir klar, dass dies kein Einstieg in eine Diskussion war, sondern die einzige Gelegenheit, an diesem Abend überhaupt etwas zu sagen. Also schob ich ein paar Bemerkungen über die europäische Flüchtlingspolitik nach. Damit war auch mein Beitrag ein „Intervento“. Obwohl ich spürte, dass er nicht gut war, war der Beifall warm und kräftig. Ähnlich erging es den folgenden Rednern. Kein roter Faden, keine Debatte. Aber immer rauschender Beifall. Dann erhob man sich, es war Schluss.

Italienische Äußerlichkeit

Italienische Äußerlichkeit

Hinterher wurde mir die Backe getätschelt: mein Intervento sei „bellissimo“ gewesen. Diskussion überflüssig, bei einem Bernini-Brunnen oder Caravaggio diskutiert man ja ebenfalls nicht. Zwar rumorte Habermas noch in meinem Hinterkopf. Aber das „Bellissimo“ ging mir doch runter wie Öl. Was ist der beste Disput gegen die Schönheit? Ist nicht sie die Kultur an sich? Nur ein westfälischer Ackergaul kann sich da sperren.

PS: Eben klingelt das Telefon. Meine Frau sagt „Ciao, bella“. Da weiß ich: Am anderen Ende ist eine ihrer römischen Schwestern. Ich zeige meiner Frau den Entwurf zu diesem Artikel. Ihr Kommentar: „bellissimo“. Na also.

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