Eine Politik der Verfassung

Vorbemerkung der Redaktion:Um Renzi beurteilen zu können, sollte man auch die kennen, die ihn kritisieren und die er seine „Feinde“ nennt. Unter anderem nennt er hier „die Professoren“, und meint damit Leute wie Stefano Rodotà. Rodotà ist ein 81-jähriger Verfassungsrechtler, der sich politisch auch außerhalb der Parteien engagiert, z. B. in der Bürgerbewegung gegen die Privatisierung des Wassers. Wohl in der Hoffnung, damit die Linke spalten zu können, machte ihn Grillo im Frühjahr 2013 zu „seinem“ Kandidaten für einen neuen Staatspräsidenten. Um ihn jedoch schon einen Monat später wieder zu exkommunizieren, weil es Rodotà in der Zwischenzeit gewagt hatte, auch Grillo zu kritisieren. In den letzten Monaten kritisierte Rodotà häufiger Renzi, weil er in dessen Jobs Act und institutionellen Reformplänen (Wahlgesetz, Abschaffung des Senats) einen Angriff auf die italienische Verfassung sieht, d.h. auf die Verrechtlichung der Arbeit und auf die Balance der Gewalten. Es folgen Auszüge aus einem Artikel, den Rodotà am 8. 11. in der „Repubblica“ veröffentlichte. Er beginnt mit Renzis Reformpolitik.

Plebiszitäre Wende

„Die offensichtlichste Reform ist die von Renzi selbst verkörperte, und zwar die Art und Weise, wie er seine Beziehung zu den Bürgern definiert… Es ist eine direkte Beziehung, die Renzi in seiner digitalisierten Sprache ‚Entmediatisierung‘ (‚disintermediazione‘) nennt, was aber den Kern trifft. Alles, was nicht unmittelbar in den persönlichen Konsens … passt, wird für irrelevant erklärt, wie die Million, die (in Rom, Red.) auf der Piazza San Giovanni demonstrierte. Und der Blick richtet sich ostentativ nur auf die anderen Millionen… Es ist kein Zufall, dass auch Renzi-freundliche Kommentare immer öfter auf plebiszitär genannte Verhaltensweisen hinweisen… Zur ‚plebiszitären Demokratie‘ … gehören die autoritären Züge, die Renzi so liquidatorisch gegenüber seinen Kritikern und Gegnern an den Tag legt.

Stefano Rodotà

Stefano Rodotà

Es ist wahr, dass wir in einer Zeit leben, in der sich die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien auch auf die politische und soziale Organisation auswirken … Aber Entmediatisierung bedeutet nicht, dass politisch alles auszulöschen ist, was zwischen die Machtzentren und die Allgemeinheit der Bürger tritt. Wenn sich in der Gesellschaft weiterhin kollektive Subjekte zeigen, können wir sie dann mit einem Federstrich eliminieren? Man sollte bedenken, dass dort, wo historische soziale Vermittler geschwächt oder verschwunden sind, an ihrer Stelle andere entstanden, angefangen mit den heute allmächtigen Suchmaschinen und sozialen Netzwerken.

Entrechtlichung der Arbeit

Diese Logik (der Entmediatisierung, Red.) drängt überall nach vorn, besonders aggressiv im Bereich der Arbeit. Wenn Renzi den Unternehmern erklärt, er habe sie von Art. 18 des Beschäftigtenstatuts befreit, bedeutet das viel mehr… Aus der Beziehung zwischen Unternehmer und Beschäftigten soll nicht nur die sich einmischende Gewerkschaft, sondern auch die… Präsenz des Richters verschwinden. Hier untergräbt die Entmediatisierung ein grundlegendes Element der Rechtskultur und gibt dem alten Spruch beunruhigende Aktualität: ‚Vor den Werkstoren endet die Demokratie‘. Es legitimiert die ungerechtfertigte Entlassung, was auch nicht durch das öffentliche Versprechen kompensiert werden kann, die Betroffenen im Entlassungsfall zu unterstützen (durch ein neu eingeführtes Arbeitslosengeld, Red.). Man denke hier an die Geschichte des Müllers von Sanssouci, der dem Machtanspruch Friedrichs des Großen die Existenz Berliner Richter entgegensetzte. Sollen wir angesichts einer ökonomischen Logik, die sich zum Maß aller Dinge erklärt, Rechtsgarantien aufgeben? Für die Schaffung einer ‚Partei der Nation‘ ist das keine gute Grundlage“.

(Nach der Feststellung, Renzis Stärke sei seine scheinbare ‚Alternativlosigkeit‘, folgen Ausführungen über die Schwäche der Opposition: Berlusconis Rechte löse sich auf; Grillos 5-Sterne-Bewegung müsse erst noch zeigen, dass sie zu einer kontinuierlichen Einflussnahme auf den Gang der Politik fähig sei).

Gewerkschaft als Platzhalter sozialer Opposition, Rekonstruktion der Linken

„Wie funktioniert ein politisches System ohne wirkliche Opposition? So wie das italienische System funktioniert. Denn man kann mit Schlauheit die verschiedenen inneren und äußeren Oppositionen neutralisieren, aber nicht den (sozialen, Red.) Konflikt aus der Welt schaffen. So dass sich die Opposition ausschließlich im Sozialen formiert. Das ist der Grund für den neuen Protagonismus der Gewerkschaft, des sozialen Subjekts par excellence, das seine Kraft aus dem materiellen Faktum der Arbeitslosigkeit und der wachsenden Ungleichheit und aus dem politischen Faktum des expliziten Angriffs auf Arbeitnehmerrechte zieht. Das ist auch der Grund für Renzis aggressive Unduldsamkeit, die den Dialog und die Auseinandersetzung mit konstruierten Feinden verweigert.

Damit kommen wir zum wesentlichen Punkt. Von der Rechten gibt es keine Opposition mehr, weil es hier eine substanzielle Konvergenz mit dem Regierungshandeln gibt. Und der Rest, den wir noch die Linke nennen können? Hier muss das Problem einer linken Politik gelöst werden, die mit den gesellschaftlichen Veränderungen Schritt hält, aber deren Neuheit gerade nicht darin bestehen darf, was gegenwärtig angestrebt wird, nämlich Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit, Solidarität in den Hintergrund zu drängen. Weil dies immer noch die Prinzipien sind, mit denen sich am besten die heutigen Schwierigkeiten und Konflikte erfassen lassen.“

(Es folgt eine Aufzählung verschiedener Ansätze, die es in Italien auf theoretischer und praktischer Ebene zur Rekonstruktion einer solchen Politik gebe, denen Rodotà jedoch ihre bisherige „Zufälligkeit“ und ihren Verzicht auf den Versuch einer Synthese vorwirft).

Verlassene Baustelle Europa

„Und dann noch Europa. Renzi sagt, dass hier das eigentliche Spiel stattfindet. Aber seine EU-Präsidentschaft prägte keine ernsthafte Initiative zu einer institutionellen Reform. Heute wird Europa über die Charta der Grundrechte neu entdeckt (an der Rodotà mitarbeitete. Red.), die in den vergangenen Jahren … vergeblich angerufen wurde. Man erinnert sich an Art. 30 über ungerechtfertigte Entlassungen, sollte aber noch Artikel 31 und 34 hinzunehmen, wo von gerechten und angemessenen Arbeitsbedingungen die Rede ist, von Garantien für ein Leben in Würde…, also Normen, die unausweichlich zum Thema Mindesteinkommen führen. In den letzten Jahren hat Europa diese Charta faktisch außer Kraft gesetzt, obwohl sie das gleiche rechtliche Gewicht wie die Verträge hat, und stattdessen eine ökonomische ‚Gegenverfassung‘ realisiert, die alles andere auslöscht. Italien ist diesem schlechten Beispiel gefolgt und hat schrittweise den Teil der Verfassung aufgegeben, der Grundwerten und Rechten gewidmet ist. Die Rekonstruktion einer neuen Politik der Verfassung ist nicht nur die Aufgabe einer linken Opposition, sondern das notwendige Fundament jeder demokratischen Regierung.“