Zum Sterben freigegeben

Am 3. Oktober 2014, am Jahrestag der Schiffskatastrophe vor Lampedusa, bei der fast 400 Menschen starben, häuften sich die Gedenkveranstaltungen und die salbungsvollen Erklärungen politischer Vertreter in ganz Europa, dass Flüchtlinge aus Kriegs- und Krisengebieten human aufgenommen werden sollten.

Lampedusa - nach dem 3. Oktober 2013

Lampedusa – nach dem 3. Oktober 2013

Ein paar Tage später, auf dem so genannten „technischen EU-Flüchtlingsgipfel“ in Rom, hat sich Europa der Forderung der italienischen Regierung erneut verweigert, die Seerettungsaktion „Mare Nostrum“ – bisher allein in italienischer Verantwortung – unter europäischer Flagge fortzuführen. 130.000 Menschenleben wurden allein im Jahr 2014 im Rahmen der Operation „Mare Nostrum“ von der italienischen Marine im Mittelmeer gerettet. Mehr als 3000 Flüchtlinge, darunter 2500 allein in den letzten vier Monaten, starben dennoch. Täglich bergen die Schiffe der italienischen Marine Schiffbrüchige und Leichen.

Aus für Seerettungsaktion „Mare Nostrum“

9 Millionen Euro kostet die Operation, die vor einem Jahr unmittelbar nach der Lampedusa-Katastrophe durch die damalige Letta-Regierung gestartet wurde. Immer wieder forderte Italien die EU-Mitgliedstaaten auf, sich – finanziell, technisch und personell – an der Aktion zu beteiligen, Italien allein sei damit überfordert. Umsonst. Auf dem Flüchtlingsgipfel scheint das endgültige Aus beschlossen zu sein: eine Seerettungsoperation in europäischer Verantwortung wird es nicht geben. Italien wird – so Innenminister Alfano – zum 1. November „Mare Nostrum“ einstellen. An dessen Stelle tritt die EU-Operation „Triton“, die ausdrücklich nicht das Ziel hat, Flüchtlinge aus Seenot zu retten, sondern im Gegenteil sie effektiver daran zu hindern, die südeuropäischen Küsten zu erreichen.

Europa, das sich seiner hohen moralischen Werte rühmt und gerne als Bastion der Menschenrechte präsentiert, hat sich dafür entschieden, Tausende und Abertausende von Flüchtlingen zum Sterben freizugeben. Denn eins ist klar: die Menschen, die in existenzieller Verzweiflung versuchen, vor Krieg, Verfolgung und Terror zu fliehen, werden sich weiterhin auf ihre mörderische Reise begeben. Junge Männer, Frauen, viele Kinder. Und kein Schlepper wird durch das Wegfallen von „Mare Nostrum“ davon abgehalten werden, Flüchtlinge einzuschiffen. Den Schleppern ist es sowieso egal, ob die Flüchtlinge ihr Ziel lebend erreichen oder vorher ertrinken, verhungern, verdursten. Das Einzige, was sie interessiert, ist es, von den Flüchtlingen das Geld zu kassieren. Oft laden sie kurz nach Beginn der Reise die Flüchtlinge auf morsche Boote um und überlassen sie dann ihrem Schicksal. Dies alles wissen die europäischen Regierungschefs. Und haben sich für den Tod entschieden.

Europas Schande heißt „Triton“

Schaut man sich die Details von „Triton“ an, wird der europäische Zynismus noch klarer: Während das Operationsgebiet von „Mare Nostrum“ bis vor die libysche Küste reichte, soll „Triton“ ausdrücklich nur nah vor der italienischen Küste (bis etwa 30 Seemeilen entfernt) patrouillieren. Zum Schutz der europäischen Grenzen, nicht der Menschen. Wenn dann in diesem Areal Menschen in Seenot entdeckt werden, dann „dürfen“ sie gerettet werden. Dass es viele bis dahin nicht schaffen, sondern schon auf hoher See oder nah der Küste Libyens sterben, ist klar und wird billigend in Kauf genommen. Es reduziert das Problem und senkt die Kosten.

Die finanzielle Ausstattung von „Triton“ beträgt ohnehin nur ein knappes Drittel von „Mare Nostrum“: 2,8 Millionen statt 9 Millionen monatlich. Das Budget soll lediglich ausreichen, den Hauptauftrag von „Triton“ zu gewährleisten. Ein Auftrag, den der Interimsdirektor der Grenzschutzagentur „Frontex“, Gil Arias, so beschreibt: „Zwischen Triton und der Operation Mare Nostrum besteht ein fundamentaler Unterschied. Während letztere eine Such- und Rettungsoperation war, fokussiert sich Triton auf Grenzkontrollen“.

Die bewusste Entscheidung Europas für den Tod unzähliger Flüchtlinge ist also gefallen. Ein großer öffentlicher Aufschrei dagegen ist – abgesehen von Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen – in unserem so zivilisierten Europa bisher nicht zu hören. Auch wenn es wenig hilft: die Organisation „Pro Asyl“ hat eine Mail-Aktion an den Präsidenten des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, gestartet. Sie sollte von möglichst vielen unterschrieben werden:
http://www.proasyl.de/de/news/detail/news/europaeische_seenotrettung_jetzt/

Die Todesmeldungen aus dem Mittelmeer werden vermehrt weitergehen. Es sage keiner, er hätte nichts gewusst. Und übrigens: Wenn Politiker – besonders auf nationaler, aber auch europäischer Ebene – dann wieder was von „Willkommenskultur“ faseln, werde ich mir erlauben, zu kotzen.