Unheilige Allianz

Berlusconi beschimpft ihn als „Kapo“, Grillo als „teutonischen Sturmtruppenführer“, der Italien den deutschen Interessen unterwerfen will. Die CSU hingegen nennt ihn die „Stimme der Schuldenländer“ und beschuldigt ihn des Verrats an deutschen Interessen.

Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments und Spitzenkandidat der sozialdemokratischen Parteien für das Amt des EU-Kommissionspräsidenten, ist in Deutschland wie in Italien Ziel heftiger Attacken. Mit „Argumenten“, die sich genau widersprechen. Für die einen ist er ein Halbnazi, für die anderen ein antideutsches Weichei.

Europas Populisten gegen Martin Schulz

Antideutsches Wahlplakat

Antideutsches Wahlplakat

Unbeschadet dieser gegensätzlichen „Vorwürfe“ basiert diese unheilige deutsch-italienische Allianz der Populisten auf der gemeinsamen Absicht, die Wahl von Schulz zum Kommissionspräsidenten um jeden Preis zu verhindern. Um dies zu erreichen, appellieren die italienischen Populisten an die antideutschen Ressentiments und die deutschen Populisten an die Ressentiments gegen die Südeuropäer, jeweils passend zu den vermuteten Vorlieben der eigenen „nationalen“ Klientel.

Berlusconi geht dabei so weit, zu behaupten, „die Deutschen“ würden die Existenz der Vernichtungslager verleugnen. Und Grillo schäumt, Schulz – der ihm in einem Zeitungsinterview „stalinistische Methoden“ vorwarf – trüge ohne den Sieg Stalins gegen Nazideutschland heute einen Hakenkreuz als Armbinde.

Wäre die Lage nicht so bitter ernst, könnte man über die grotesken Züge dieser „Anti-Schulz-Kampagne“ lachen. Doch die Drohung eines Vormarschs der Rechtspopulisten – nicht nur aus Italien und Deutschland, sondern auch aus Großbritannien, Frankreich, Ungarn, den Niederlanden – gegen Europa ist real. Wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß und mit spezifischen Ausprägungen, nehmen Nationalismus, Krise der repräsentativen Demokratie, Fremdenfeindlichkeit und soziale Not in ganz Europa zu. Gepaart mit einer wachsenden und nicht minder gefährlichen Verweigerungshaltung gegenüber Politik und politischer Partizipation, die sich bei der Europawahl, den Umfragen zufolge, in einer weiter sinkenden Wahlbeteiligung ausdrücken wird.

Trotz Kritik die einzige Alternative

An der Hetzkampagne gegen Martin Schulz beteiligt sich nicht die kleine (und wahrscheinlich chancenlose) linke Tsipras-Liste, die in Italien über ein paar prominente Anhänger verfügt. Sie argumentiert inhaltlich und politisch. Aber de facto trägt auch sie dazu bei, die Chancen zu erhöhen, dass die Europäische Volkspartei – also das Bündnis von der CDU/CSU mit Orban und Berlusconi – wieder zur stärksten Fraktion im EU-Parlament und somit Juncker der nächste Kommissionspräsident wird.

Wenn es dazu kommt, wäre die Chance zu einem Wechsel für ein stärkeres, solidarischeres und demokratischeres Europa mit Sicherheit vertan. Zwar ist die Kritik an dem sozialdemokratischen Spitzenkandidaten an vielen Stellen nicht nur berechtigt, sondern notwendig. Es gibt eine deutliche Diskrepanz zwischen seinen durchaus richtigen Ankündigungen und Erklärungen zu strategischen Fragen – z. B. seiner Kritik an der bisherigen (nord)europäischen Austeritypolitik und der Abschottung Europas gegen Migranten und Flüchtlinge – und seinem konkreten politischen Handeln. Bei den Koalitionsverhandlungen zwischen CDU und SPD war er Vorsitzender der für die Europapolitik zuständigen Kommission. Die Chance, die sich ihm dabei bot, hat er nicht genutzt, sondern sich weitgehend dem Merkel-Kurs gebeugt.

Dennoch halte ich es in der gegenwärtigen wirtschaftlichen und politischen Situation in Europa für wichtig, mit der Wahl von Martin Schulz zum neuen EU-Kommissionspräsidenten ein Zeichen der Veränderung zu setzen: in der europäischen Wirtschafts- und Sozialpolitik, in der Einwanderungsfrage, im Kampf gegen Nationalismus und die Ausgrenzung von Minderheiten.

In wenigen Tagen werden wir erfahren, ob sich die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in den europäischen Ländern für diesen Weg entscheidet, oder ob sie aus Angst, Verunsicherung und verzweifelter Wut alles beim Alten belassen will – oder sogar dem plumpen Flötenspiel der Rattenfänger Europas folgt.