Tod in Prato

Das Feuer kam im Morgengrauen des 1. Dezember, in einer Baracke von Macrolotto, des Industrieviertels von Prato (Toskana). Eine Gasbombe, so hörte man später, war undicht, ein Funke brachte alles zur Explosion. Für die Feuerwehr war es seit Juli schon der vierte Brand in Macrolotto, nur diesmal besonders schlimm. Drinnen lagern Textilballen, ihre Plastikhüllen wirken wie Brandbeschleuniger Aus den verkohlten Trümmern holt die Feuerwehr nicht nur Stoffballen, sondern auch 7 Tote. Dass es hier Menschen gab, ahnte man, aber sie hatten sich bisher eher unsichtbar gemacht. Jetzt hört man aus der brennenden Baracke gellende Schreie, bis sie verstummen. Einer hatte noch ein Fenster eingeschlagen, um herauszukommen, aber scheiterte am Eisengitter davor. Als die Leiche geborgen wird, hängt, so Augenzeugen, sein einer Arm aus den Gitterstäben, als ob er winkt. Alle Überlebenden (die man noch im letzten Moment aus der Baracke rettet) und alle Toten sind Chinesen.

Baracken in der Toskana

Lieben Sie die Toskana? Mit ihrer Landschaft, ihren Städten? Dann sollten Sie nicht nur Florenz, sondern auch 20 Km weiter Prato besuchen, die zweitgrößte Stadt der Region mit 188 000 Einwohnern. Gepflegter Stadtkern, mittelalterliches Zentrum, schöner Dom, Statuen und Reliefs von Donatello. Von der Krise spürt man hier wenig. Als Italienkenner sind Sie es gewohnt, dass Sie vor dem „Centro storico“ erst durch gesichtslose Vorstädte fahren müssen, die man schnell wieder vergisst. Wie die Industriegebiete, die man am besten gleich umfährt.

Prato ist ein Zentrum der Textilindustrie und hat ein Industriegebiet namens Macrolotto. Es ist ein Wald von Baracken, in denen sich 4800 chinesische Kleinbetriebe ansiedelten, 3200 im Textilsektor. Mit 12 000 chinesischen Arbeitern, die einen Arbeitsvertrag vorweisen können, auch wenn er meist nur für eine Teilzeitarbeit gilt. Und mit vermuteten 7000 „Irregulären“. Entsprechend ungenau sind die Angaben über Pratos chinesische Wohnbevölkerung. In den letzten zwei Jahrzehnten soll sie von wenigen Tausend auf 30 bis 50 000 hochgeschnellt sein – 16 000 mit Wohnrecht, während die „Irregolari“ auf 25 bis 30 000 geschätzt werden.

In Prato gibt es noch Reste alter italienischer Textilindustrie – ihre Weltmarktnische ist die Spezialisierung auf hochwertige und innovative Stoffe. Macrolotto ist die Parallelwelt. Dort produzieren die Chinesen „Pronto moda“, Billigkleider im neuesten Trend, deren Stoffe aus China kommen. Abnehmer sind große europäische Verkaufsketten – die „fast fashion“, die in Macrolotto für 3 bis 5 € produziert wird, liegt in italienischen und deutschen Schaufenstern mit dem Etikett „Made in Italy“ für 30 bis 50 € aus. Woraus nicht nur Chinesen Profit ziehen: Pratos Bürger, die ihre Wohnungen und Baracken schwarz vermieten, Handelsketten, welche die Erzeugnisse von Macrolotto verkaufen. Das „Made in Italy“ ist nicht einmal gelogen, auch wenn das einzig Italienische an der „fast fashion“ die Knöpfe und Etiketten sind.

Moderne Arbeitssklaven

Der Arbeitsplatz, 1 € pro Stunde

Der Arbeitsplatz, 1 € pro Stunde

Stell dir vor, du wärest illegal mit der Mafia nach Italien gekommen, weil du hoffst, hier für 1 Euro pro Stunde, 15 pro Tag und 7 mal 15 pro Woche eine Arbeit zu finden. Geld, von dem du einen Teil nach Hause schickst, um deiner Familie zu helfen (günstiger Wechselkurs). Und stell dir vor, deine Welt besteht nur aus dieser einen Baracke, in der du lebst, arbeitest und schläfst. In ihr stehen die Maschinen, an denen du Stoffe schneidest und nähst. Manchmal auch nachts, denn dein Betrieb liefert „just in time“. Die Baracke verlassen? Gern gesehen wird es nicht. Du bist hier, um zu arbeiten. Dein Chef hat deine Blanko-Kündigung schon in der Schublade. Draußen ist Gefahr: Kontrolleure, die Ärger machen, weil du offiziell nur in Teilzeit arbeitest. Oder dich als „Illegalen“ mit Polizeieskorte ins nächste Flugzeug setzen.

15 Stunden Arbeit täglich, der Rest für Essen und Schlafen, Tag für Tag in einer Baracke. Dein Schlafplatz ist 2 mal 2 Meter groß, von den anderen Schlafstätten, ebenfalls 2 mal 2 Meter, durch Gipskarton getrennt. Das Mobiliar: eine Matratze, ein Gaskocher, der auch als Heizung dient, ein paar Apfelsinenkisten, um deine Sachen unterzubringen. Geschwärzte Fenster, verrammelt und vergittert. Keine Feuerlöscher, das sind unnötige Kosten.

Entschuldigungen

So leben heute etwa 20 000 Chinesen als Arbeitssklaven mitten in der Bella Toscana. Und damit in Europa, das stolz auf seine „Sozialstandards“ ist. Eigentlich vor aller Augen, denn 50 000 Chinesen in einer mittleren toskanischen Stadt, davon 20 000 in einem Barackendorf, lassen sich auch bei geschwärzten Fenstern nicht verheimlichen. Trotzdem ahnte natürlich der italienische Besitzer der abgebrannten Baracke nichts davon, dass in ihr Menschen schliefen. Und auch die zuständige Finanzpolizei wehrt jeden Vorwurf ab: Sie sei chronisch unterbesetzt, und wie solle man 4800 chinesische Kleinbetriebe unter Kontrolle halten, die immer wieder ihre Spuren verwischen? 1200 von ihnen habe man in den letzten 4 Jahren wegen nicht eingehaltener Sicherheitsvorschriften geschlossen. Da aber jeder dieser Betriebe sowieso nur eine durchschnittliche Lebensdauer von 2 Jahren habe, um dann an der nächsten Ecke unter anderem Namen wieder aufzuerstehen, wie könne man da die Übersicht behalten?

Es gibt Chinesen, die hier alles Nachfragen „rassistisch“ nennen. Auch die Pekinger Regierung deckt über Prato den Mantel des Schweigens. Nach dem Brand intervenierte der chinesische Botschafter persönlich, um die Finanzpolizei an ihren Ermittlungen zu hindern.

Muss es immer erst katastrophale Medienereignisse geben, bevor wir begreifen, dass an unseren Verhältnissen etwas nicht stimmt? Die ertrunkenen Afrikaner von Lampedusa stoßen uns auf die mörderischen Konsequenzen der „Festung Europa“. Für die verbrannten Chinesen von Prato sind wir, so scheint es, weniger verantwortlich – die Zuständigkeit liegt bei Italien, die Betroffenen „wollen es selbst“. Aber kann es uns egal sein, wenn Menschen mitten unter uns wie Sklaven gehalten werden? In beiden Fällen steht auf dem Spiel, was wir so prätentiös die „europäische Wertegemeinschaft“ nennen. Und nebenbei auch Menschenleben.