Berlusconi, der Erneuerer

Mit dem Urteil, dass jemand einen Charakter „hat“, sollte man vorsichtig sein. Man übergeht dabei leicht vorhandene Ambivalenzen. Vor allem spricht man damit einer Person die Fähigkeit ab, zu sich selbst auf Distanz zu gehen. Sartre beharrte auf dem Freiheitsrest, der auch dem „Feigling“ bleibt – er kann irgendwann einen Akt des Muts begehen. Gerade dann, wenn er sich selbst als „feige“ erkennt.

Mapelli und Santucci präsentieren ihr Buch

Mapelli und Santucci präsentieren ihr Buch

Trotzdem wage ich die Behauptung, dass B. korrupt „ist“. Nicht nur, weil ihn die Gerichte deshalb erstmals definitiv verurteilten. Sondern weil er offensichtlich unfähig ist, dazu auf Distanz zu gehen. Seine Korruptheit ankert in seinem Viktimismus und Unfehlbarkeitsdünkel. Nur eines muss man ihm zugestehen: Er war auf diesem Gebiet innovativ.

Formenwandel der Korruption

Walter Mapelli, ein auf Korruptionsdelikte spezialisierter italienischer Staatsanwalt, und der Journalist Gianni Santucci schrieben ein Buch über den Formenwandel der Korruption (1). In der klassischen Form gab es eine klare Rollenteilung: hier z. B. der korrumpierende, einen Vorteil suchende Unternehmer – einen Staatsauftrag, eine Genehmigung, die Beschleunigung eines Verfahrens -, dort der Politiker, der über die institutionelle Möglichkeit verfügt, ihm diesen Vorteil zu verschaffen. Beide gehören noch zu getrennten Milieus, die nur das Geld zusammen bringt. Die Korruptionsfälle, die zu Beginn der 90er Jahre aufgedeckt wurden (Tangentopoli), folgten noch diesem Schema.

Der Skandal setzte einen Lernprozess in Gang, der die Korruption umfassender und schwerer identifizierbar machte.

  • Umfassender, weil man sich nun nicht mehr damit begnügt, z. B. bei der Vergabe eines Bauauftrags einen politisch-institutionellen Entscheidungsträger zu bestechen, etwa den Bürgermeister. Sondern man berücksichtigt die ganze Kaskade der in den Prozess involvierten Funktionsträger, die alle ihren „Anteil“ verlangen, wenn sie „dicht“ halten sollen. Also auch die zuständigen Assessoren, Gutachter usw.
  • Schwerer identifizierbar, weil die „Tangenti“ jetzt nicht mehr nur mit Geldscheinen gefüllte Briefumschläge sind, sondern zunehmend auch Gefälligkeiten indirekter Art: mietfreie Wohnungen, zur Verfügung gestellte Autos und Jachten, Urlaubsreisen, große Sausen in Schweizer Luxus-Etablissements, Prostituierte.

Im Spiegelkabinett

Was sich aber vor allem änderte – und die Aufklärung erschwert -, ist die Vervielfältigung der Rollen, welche die Personen heute im Wechselspiel der Korruption einnehmen. Die Grenzen von Unternehmer, politischem Wahlamt, Institution werden fließend: Der korrupte Unternehmer X repräsentiert heute auch eine Partei im Gemeinderat oder Regionalparlament; der öffentlich bestellte Veterinär Y betreibt gleichzeitig ein (auf seine Frau eingetragenes) Beratungsunternehmen. Die Akteure bilden Netzwerke von Amigos, in die alle eingesponnen sind. Eine Hand wäscht die andere; der heute Korrumpierte ist morgen der Korrumpierende und umgekehrt. Der vom Gesetz verlangte Nachweis eines direkten Bezugs zwischen „Tangente“ und Gegenleistung wird noch schwerer. Zumal es häufig das gemeinsame Abmelken von Steuergeldern ist, das die Netzwerke zusammenhält und die aus eigener Tasche bezahlten „Tangenti“ ersetzt. Ein Versteckspiel, in dem die ermittelnden Richter und Staatsanwälte, die immer noch mit dem juristischen Handwerkszeug von 1930 ausgerüstet sind, wie in einem Spiegelkabinett umhertappen.

Doppelrolle auf höchstem Niveau

Vor diesem Hintergrund sieht man manches in anderem Licht (auch in Deutschland, siehe „Korruption? Doch nicht bei uns!“). Insbesondere bei einer Figur wie Berlusconi, der den Formenwandel aktiv mitvollzog. Als er der von Craxi geförderte Jungunternehmer war, galt noch die alte Rollenteilung. Aber Tangentopoli fegte Craxi hinweg. B. lernte schnell und ging „selbst in die Politik“. Und kreierte die Doppelrolle Unternehmer-Politiker nun auch auf gesamtstaatlicher Ebene. Die Klaviaturen, die ihm damit unternehmerisch, medial und institutionell zur Verfügung standen, beherrschte er meisterhaft. Die Ad-Personam-Gesetze, die er sich auf den Leib schneidert, sind nur die Spitze des Eisberges. Auch die um seine Person gravitierenden Seilschaften P3 und P4 gehören dazu, Netzwerke zwischen Politik, Industrie, Kommunikation, Polizei und Klerus. Gegen sie wurde wegen Korruption, Diffamierung und illegaler Parteienfinanzierung ermittelt, die P3 wurde 2010 verboten. Währenddessen vervielfachte sich B.s Milliarden-Vermögen weiter.

Berlusconi behauptet, dass er Italien „modernisieren“ wollte. Versteht man darunter die Produktivität der italienischen Industrie, der Bürokratie und Dienstleistungen, dann ist das Gegenteil wahr, darin ist das Land rückständiger denn je. Aber in einem Punkt hat er Recht. Die Korruption hat er modernisiert. Es wird schwer sein, sein Erbe zu überwinden: wuchernde Korruption hier, wachsende Volkswut dort. Die Korruption wird Gewohnheit, die Wut immer blinder („die sind doch alle gleich“). Beides zerfrisst das Gemeinwesen.

(1) Walter Mapelli, Gianni Santucci, La democrazia dei corrotti. Milano 2012.