Verkehrte Welt

In den letzten Jahren war man es gewohnt, dass das Ausland mit ungläubigem Staunen auf Italien schaute. Jetzt erfasst es auch aufgeklärte Italiener. Am 21. August schrieb Ezio Mauro, Chefredakteur der „Repubblica“, unter der Überschrift „Verkehrte Welt“, man werde heute in Italien „Zeuge einer eklatanten Umkehrung des Empfindens, einer Umwälzung der Wahrnehmung von Realität“.

Gestörte Wahrnehmung

Gestörte Wahrnehmung

Er meinte damit die Merkwürdigkeit, dass in Italien kaum noch jemand von B.s gerichtsfest gewordener Straftat spricht – sie habe „sich wie in Luft aufgelöst“. Keiner verlange mehr von ihm „Rechenschaft für das illegale Vermögen von 270 Millionen Euro, das er zum Schaden des Unternehmens und der Kleinaktionäre aufhäufte, um auf dem Feld der Justiz, der Politik und der Wirtschaft falsch zu spielen – vorbei an Regeln, Konkurrenz und Markt.“ Und nicht zuletzt auch zum Schaden der italienischen Steuerzahler, wie man noch hinzusetzen muss.

Stattdessen schafft es B., den Spíeß umzukehren und die PD, den Staatspräsidenten und den Regierungschef auf die Anklagebank zu setzen. „Sie sollen sich kompromittieren, indem sie für die rechtskräftige Verurteilung des Cavaliere irgendeinen Ausweg finden, unter Beugung des Rechts, unter Missachtung von Verfassung und Gewaltenteilung und damit der Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz.“ B. soll zum „institutionell geschützten Gesetzlosen“ werden, „zum ersten Bürger eines neuen Staatswesens, das auf dem Prinzip der Gesetzesübertretung beruht und in dem Macht Vorrang vor Recht hat.“

Ökonomie auf Talfahrt

Obwohl es in Europa Anzeichen für eine konjunkturelle Belebung gibt, befindet sich Italien in einer Rezession, deren Ende nicht abzusehen ist. Zwar sank der „Spread“, der vor zwei Jahren zum Rücktritt der Regierung Berlusconi führte, auf ein historisches Tief. Aber die Erblasten, die ihn in die Höhe trieben – unzureichende Produktivität, ineffizienter Staatsapparat, hohe Verschuldung -, bleiben. Die fatale Rosskur, der sich das Land unterzieht, bewirkte bisher nur, dass sich der Staat noch weiter verschuldet und die produktive Basis zerfällt. Täglich schließen weitere Fabriken, die Arbeitslosigkeit steigt, insbesondere für Jugendliche. Und am allerschlimmsten: Was die Produktivität auf längere Sicht sichert – Infrastruktur, Schulen, Universitäten -, verkommt.

Obwohl die Letta-Regierung gegenzusteuern versucht, schafft auch sie es nicht, die größten Teufelskreise, in denen sich Italien befindet, zu durchbrechen. Die Verminderung der Staatsausgaben scheitert am Widerstand der Lobbies. Wegen massiver Steuerflucht werden die Steuerehrlichen – oder die es nicht schaffen, sich dem Fiskus zu entziehen – mit immer höheren Steuern belegt, was noch mehr Steuerflüchtlinge ins Ausland treibt. Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich: Während die Reichen und Schönen Italiens die Strände in Übersee ruinieren, sinken Millionen von Haushalten unter die Armutsgrenze.

Demokratie ohne Mehrheit

Auch politisch ist das Szenario bedrückend. Zwei der drei Blöcke, in die seit den letzten Wahlen die aktive Wählerschaft zerfällt, führen Charismatiker, die von der repräsentativen Demokratie nichts halten und denen ihre Anhängerschaften auf Gedeih und Verderben folgen.

Dass B. ein korrupter Populist ist und dem Land ein Regime überstülpen möchte, in dem es keine unabhängige Justiz mehr gibt, ist noch nicht das Schlimmste. Möchte-gern-Autokraten gibt es in jeder Demokratie – die Frage ist ihre Gefolgschaft. Hier hat sich in den letzten 20 Jahren Grundlegendes verändert. Als Craxi wegen illegaler Parteienfinanzierung zu Beginn der 90er Jahre in die Mühlen der Justiz geriet, wandte sich die öffentliche Meinung gegen ihn, seine Partei brach ein, er trat zurück. Nach dem Urteil gegen B. geschieht das Gegenteil: Er bläst zum Generalangriff gegen die Justiz, seine Zustimmungswerte steigen. Der Rechtsstaat ist in der Krise – obwohl er noch funktioniert, wie B.s Verurteilung zeigt. Sondern weil Millionen die Gleichheit vor dem Gesetz nicht mehr für verteidigenswert halten.

Manche trösten sich damit, dass in anderen Teilen des Volks der Zorn über die politische Korruption wächst und sich lautstark Gehör verschafft. Aber indem es Grillo und Casaleggio gelang, sich zu dessen Sprachrohr zu machen, verändern sie seine Stoßrichtung: Sie lenken ihn gegen das Parteiensystem, gegen die repräsentative Demokratie überhaupt. Ihre Alternative ist eine Web-„Demokratie“, die zwar lokale Partizipation ermöglicht, aber auf gesamtstaatlicher Ebene in eine Autokratie umschlägt, die der von B. nicht nachsteht. Grillo und Casaleggio sehen ihr Hauptziel darin, die PD zu zerschlagen. Die trotz ihrer offenkundigen Schwäche immer noch die politische Hauptkraft desjenigen Drittels der Italiener ist, welches sich dem demokratischen und sozialen Rechtsstaat verpflichtet fühlt. Für Grillo und Casaleggio sind die wirtschaftlichen Probleme des Landes demgegenüber zweitrangig, ebenso wie die Kulturrevolution, die das Land in Sachen Steuerhinterziehung und Korruption nötig hätte und in der Politik beginnen müsste. Welche die 5-Sterne-Bewegung zwar fordert, aber nicht allein in Angriff nehmen kann.

Am seidenen Faden

Die verkehrte Welt, von der Ezio Mauro spricht, ist nicht nur die Verzerrung des öffentlichen Wahrnehmens und Empfindens. Nimmt man Berlusconis und Grillos Politik und die Anzahl ihrer Anhänger ernst, hat auch die Demokratie in Italien keine Mehrheit mehr. Dass dies bisher im Zustand der Latenz blieb, hängt am seidenen Faden: Berlusconis und Grillos Lager haben sich noch nicht vereinigt, und Napolitano gelingt es kraft seiner Autorität, vorerst noch das eine dieser Lager in ein ebenso prekäres wie fragwürdiges Regierungsbündnis einzubinden, auf der Grundlage einer fiktiven „Verantwortung fürs Ganze“. B. ging es niemals um die für das Land nötigen Reformen. Sie interessieren ihn höchstens als Mittel zum Zweck: um seine Haut zu retten. Der Faden kann jederzeit reißen.