Das Purgatorium

Als ich in jungen Jahren erstmals nach Rom kam, hörte ich dort von einem Lokal, dessen Spezialität die Beschimpfung seiner Gäste sei. Es soll nicht gerade billig gewesen sein, das gehobene Bürgertum, das dort verkehrte, ließ sich den Spaß etwas kosten. Ich stelle mir vor, dass man schon bei der Bestellung vom Kellner mit den Worten begrüßt wurde: „Na, fettes Schwein, welchen Fraß willst du?“ Entzückt zahlte man das doppelte Trinkgeld.

Seit der Rede, die Napolitano am Montag zum Beginn seiner zweiten Amtszeit vor beiden Kammern hielt, ist für mich die Existenz eines solchen Lokals plausibler geworden. Auch Napolitano schimpfte, wo man üblicherweise feierlich wird. Nicht weil er sein Handwerk in jenem römischen Lokal gelernt hätte. Sondern weil ihm tatsächlich der Geduldsfaden gerissen ist. Und weil er damit auch eine Absicht verfolgt: das Unmögliche möglich zu machen, nämlich PD und PdL ins gleiche Regierungsbett zu zwingen.

Napolitanos Rede

Für seinen denkwürdigen 40-Minuten-Auftritt hatten sich alle versammelt: die Abgeordneten beider Kammern, die Vertreter der Regionen, die immer noch amtierende Regierung Monti. Die Presse, Napolitanos Frau Clio, Kardinäle und Generäle auf der Tribüne.

Er beginnt seine Rede, wie es sich bei solchem Anlass gehört, und bedankt sich für die breite Mehrheit, die ihn wählte, ihr Vertrauen, die ihm entgegen gebrachte Zuneigung usw. usw. Seine Stimme bricht, ein Moment der Rührung. Man weiß: Eigentlich hatte er Besseres vor. Die Koffer waren gepackt, er wollte mit seiner Frau nach Capri. Aufmunternder Applaus.

Nun wechselt die Tonlage. „Es gab (vonseiten der Politik) eine lange Reihe von Unterlassungen, Fehlern, Verweigerungen, Unverantwortlichkeiten“. Wieder Applaus, er sattelt drauf: „Verzögerungen, Opportunitätserwägungen, Instrumentalisierungen“. Stehender Applaus. Aber so soll man ihm nicht entkommen: „Möge euch dieser Applaus nicht zur Selbstnachsicht verführen“ (Napolitano schrieb früher Gedichte). Gedämpfterer Beifall. Also noch deutlicher: „Unverzeihlich“ sei es gewesen, nicht das Wahlgesetz zu reformieren. Ovation. Die „politischen Kräften“ seien „schwerhörig“, was sie aber nicht daran hindere, ihm jetzt „noch eine weitere Amtszeit“ abzuverlangen. Die Aufforderung, seine Pflicht zu erfüllen, gibt er postwendend zurück: Nun habe jeder „die Pflicht, praktikable Lösungen zu suchen und vorzuschlagen“. Er zeigt den Stock, den er hinter dem Rücken hält: „Ihr sollt wissen, dass ich nicht zögern werde, im Angesicht des ganzen Landes die Konsequenz zu ziehen, wenn ihr mir weiter mit dieser Schwerhörigkeit begegnet.“. Also Neuwahlen oder sein endgültiger Rücktritt. Oder beides.

Die Bedingung der gemeinsamen Regierung

Dann kommt er zum Punkt: „Ich bin nicht hergekommen, um der Notar der Unregierbarkeit zu sein. Nicht deshalb habe ich eure Einladung angenommen“. Eure Einladung soll sagen: Ihr habt mich geholt, nun müsst ihr auch zu den Konsequenzen stehen. Bei der Wahl bekam niemand eine Mehrheit, die zum Regieren reicht – ob es euch gefällt oder nicht, jetzt müsst ihr unter euch zu einem Übereinkommen gelangen. Seitdem sind 56 Tage vergangen, und immer noch „gibt es eine Art Entsetzen gegenüber jeder Art von Einvernehmen, von Bündnis“. Das sei „Regression“, weil die „die Idee des zivilen Zusammenlebens verloren geht“. Das ist Schimpfrede auf höchstem Niveau – Napolitano gehört zu der italienischen Schicht, in der du dich erschießen kannst, wenn dir jemand sagt, du seiest „incivile“. Aber es ist auch der Punkt, an dem Napolitanos Gedankengang fragwürdig wird: Als ob die bisherige Weigerung der PD, sich auf eine gemeinsame Regierungsbildung mit B. einzulassen, nur am generellen Vorurteil gegen jede Art von Bündnis liegt. Und als ob die wahre „Regression“ nicht gerade im Bündnis mit B. liegt. Denn B., samt seiner PdL, ist die Regression.

Aber die Botschaft ist klar: Ihr, PD und PdL, habt jetzt eine Regierung zu bilden, und zwar dalli dalli, Ende der Diskussion. Wieder Applaus, der PD-Block (der vorher zwei eigene Kandidaten verbrannt hatte) erhebt sich, die Monti-Truppe lächelt, in B.s Truppe explodiert der Enthusiasmus. Nur SEL hält sich zurück, und die Grillini schweigen.

Alles neu, alles beim Alten

B. bei Napolitanos Rede

B. bei Napolitanos Rede

Ich wüsste nicht, in welchem anderen Land es sich ein Staatspräsident erlauben könnte, so mit den Parteien zu reden. Concita de Gregorio verglich in der „Repubblica“ Napolitano mit dem Übervater, der seine Kinder zusammenruft, um ihnen die Leviten zu lesen, weil sie das Familienerbe durchgebracht haben. Die Rollen sind Montag so verteilt. Die Beschimpften applaudieren, und nicht nur aus Masochismus, wie im anfangs erwähnten römischen Lokal. Sondern weil sie in der Strafrede ein Purgatorium, eine Rückkehr zu Stunde Null sehen. Wie die Beichte ist sie verbunden mit der Aufforderung zur reinigenden Tat. Nur dass es hier nicht mit drei Ave Marias, sondern mit der Bildung einer gemeinsamen Regierung zu enden hat.

Denn Napolitano, den die letzten Monate in die Rolle des moralischen Übervaters katapultierten, ist zugleich ein gnadenloser Pragmatiker. Der auch dem missratensten Sohn sagt, dass er gebraucht und wieder angenommen wird. Man ist, wie nach der Beichte, neugeboren und darf trotzdem der Alte bleiben. Das gelöste Lächeln Berlusconis sprach Bände. Das reine Glück des wieder Aufgenommenen. „Es war die beste Rede, die ich in den 20 Jahren meiner politischen Laufbahn hörte“, sagte er hinterher. Er glaubt ja sowieso, mit ihr seien nur die Anderen gemeint gewesen.