Szenarien nach der Wahl

Zunächst ein Geständnis: ich bin ratlos. Und vor allem beunruhigt. Italien steckt in einer Sackgasse, in die es sich selbst hinein manövriert hat, und die Zeichen mehren sich, dass das Schlimmste noch vor uns liegt. Bevor ich zu den Szenarien einer möglichen bzw. unmöglichen Regierungsbildung komme: Gegen B. wurde gerade ein neues Bestechungsverfahren eröffnet. Er soll zur Zeit der Prodi-Regierung einem Abgeordneten aus dem Regierungslager 3 Millionen Euro gezahlt haben, damit er die Fronten wechselte und so zum Sturz Prodis beitrug. Der Betroffene ist geständig und hat auch B.s Behauptung dementiert, er sei dazu von den Staatsanwälten gezwungen worden. B. antwortet mit einem Frontalangriff gegen den Rechtsstaat: er ruft für den 23. März – just der Tag, an dem das Appellationsgericht über seine 4-jährige Haftstrafe im Fall Mediaset entscheidet – zu einer Großdemonstration gegen die Justiz („Krebs der Demokratie“) auf. Mitte in einer tiefen politischen und institutionellen Krise, ohne handlungsfähige Regierung und mit einem Staatspräsidenten, dessen Mandat in ein paar Wochen endet.

Napolitano: auf ihm ruht die Last

Napolitano: auf ihm ruht die Last

Nach dem Wahl-Erdbeben ist noch keine realistische Perspektive für eine Regierungsbildung in Sicht. Mittelinks verfügt zwar dank dem absurden Wahlgesetz in der Abgeordnetenkammer – trotz nur kleinen Stimmenvorsprungs – über eine sichere Mehrheit, nicht jedoch im Senat. Auch nicht, wenn hier die wenigen Stimmen der Zentrumsgruppe um Monti dazu kämen.

Grillos Duldung oder „Große Koalition“?

Als mögliche Bündnispartner bleiben also entweder Grillos 5-Sterne-Bewegung oder Berlusconis PdL. Bersani, die Mehrheit der PD wie auch SEL schließen – bisher – ein Zusammengehen mit Berlusconi kategorisch aus. „Das wäre politischer Selbstmord“.

Bleibt also Grillo mit seinen Abgeordneten. Schaut man sich die jeweiligen Programme an, sind – theoretisch – durchaus Berührungspunkte erkennbar, z. B. Antikorruptionsgesetz, Reduzierung der Kosten der Politik, neues Wahlgesetz, Gesetz zu Interessenkonflikten, auch bei einigen sozialen Themen. Schwieriger wird es bei zentralen Bereichen wie Wirtschaftspolitik und Europa, weil hier Grillos Programm nicht finanzierbare Forderungen enthält und antieuropäischen Populismus (bis hin zum Austritt aus der Euro-Zone) bedient. Möglich wäre bestenfalls das Abarbeiten einer zeitbegrenzten „Not-Agenda“ mit klaren Signalen der Erneuerung. Eine solche Agenda will Bersani am kommenden Mittwoch im PD-Leitungsgremium vorschlagen und zur Grundlage seiner anstehenden Konsultationen mit dem Staatspräsidenten machen.

Dass diese Option eine Chance hat, ist jedoch fraglich. Denn Grillo und sein „Spin Doctor“ Casaleggio beteuern, sie werden nie und nimmer einer Bersani-Regierung das Vertrauen aussprechen. Schon das Wort „Vertrauen“ verursacht ihnen Grauen. O-Ton Grillo: „Alles nur wandelnde Tote“ und „Arschgesichter“. Er wirft täglich neue Nebelkerzen, die letzte: wenn eine große Koalition von PD und PdL ein neues Wahlgesetz und die Streichung der Parteienfinanzierung vorschlägt, werden Grillos Leute gerne dafür stimmen. Dass es zwischen PD und PdL keinen Unterschied gebe, war ein Kernpunkt seiner Demagogie. Jetzt will er ihr Bündnis herbeireden. Er setzt auf eine kurzlebige große Koalition, von der vor allem die Pd zermalmt wird – damit er dann aus den bald zu erwartenden Neuwahlen als alleiniger Sieger hervorgeht.

Doch was Grillo will, ist nicht unbedingt das, was auch seine Anhänger wollen. In Grillos Blog tobt der Meinungskampf, viele rufen dazu auf, jetzt Verantwortung zu übernehmen und eine Mittelinks-Regierung zu ermöglichen (nach Meinungsumfragen sind 66% der „Grillini“ dafür). Doch das Vorhaben, eine Mittelinks-Regierung nur „von Fall zu Fall“ zu unterstützen, ist schwer umsetzbar. Denn nach dem institutionellen Procedere müsste eine neue Regierung zuvor in beiden Kammern die nötigen Vertrauensabstimmungen gewinnen – was Grillo gerade ablehnt. Wäre aber zumindest eine „Duldung“ möglich? Da auch Enthaltungen als Nein-Stimmen gelten, könnte seine Fraktion der Regierung nur dadurch (indirekt) zur Mehrheit verhelfen, indem sie vor der Abstimmung den Saal verlässt, denn die Mehrheit richtet sich nur nach den anwesenden Abgeordneten. Doch auch das scheint Grillo zuviel „Paktiererei“ zu sein. Werden seine Abgeordneten dagegen rebellieren? Eher unwahrscheinlich.

Doch bald Neuwahlen?

Indessen verschärft sich die Auseinandersetzung auch innerhalb der PD. Es mehren sich die Stimmen, die Bersani in der gegenwärtigen Situation nicht für den geeigneten Verhandlungsführer halten – weder gegenüber Grillo noch gegenüber dem Staatspräsidenten. Und es gibt auch eine Minderheit, die ein Zusammengehen mit B.s PdL in einer „Übergangsregierung“ nicht ausschließt.

Klar ist: Auch wenn eine dieser Optionen zustande kommt – eine linke „Minderheitsregierung“, die von der 5-Sternen-Bewegung toleriert wird, oder eine „große Koalition“ -, hätte sie langfristig keine Perspektive. Baldige Neuwahlen mit höchst ungewissem Ausgang, die Staatspräsident Napolitano partout vermeiden will, scheinen unvermeidlich. Womöglich noch einmal mit dem gleichen verfassungswidrigen Wahlgesetz.

Inzwischen scheint – neben Grillo – auch B. Neuwahlen zu bevorzugen. Vermutlich weil er den nahenden Gerichtsurteilen in seinen Prozessen mit einem aggressiv populistischen Wahlkampf zuvorkommen will. Dass er in diesem Metier ein Meister ist, hat er bewiesen.

Es gibt Optimisten, die sich von diesem Wahlergebnis sogar einen neuen Aufbruch erhoffen. Ich fürchte, die Chancen dazu sind geringer als die Gefahr, dass Italien im Würgegriff zweier verantwortungsloser Populisten und Antidemokraten erstickt. Die Mehrheit des italienischen Volks hat dem mit ihren Stimmen – gewollt oder ungewollt – die Tür geöffnet. Das ganze Land würde dafür die Konsequenzen tragen, möglicherweise auch Europa.

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