Die Welt unter einem Zelt

„Dass ich Inder und Pakistaner nicht im gleichen Zelt unterbringen darf, weiß ich wohl. Aber geht es vielleicht mit Sikhs und Muslimen zusammen?“ fragt etwas überfordert Maria, Koordinatorin einer der Zeltlager für Erdbebenopfer im emilianischen Mirandola, in einer lesenswerten Reportage der Tageszeitung „La Repubblica“ vom 2. 6. über das Leben in den „Tendopoli“ (Zeltstädten).

In vielen von ihnen bilden die Migranten die Mehrheit. Das Erdbeben hat vor allem die alten Gebäude in den historischen Zentren zerstört oder beschädigt, die oft billigen Wohnraum für Einwanderer boten. Jetzt teilen sich Marokkaner, Inder, Rumänen, Chinesen und Italiener die Notunterkünfte. Und die ehrenamtlichen Helfer haben alle Hände voll zu tun, um das erzwungene multiethnische Zusammenleben einigermaßen konfliktfrei zu gestalten.

„Die Ausländer waschen sich ihre Füße immer direkt vor dem Zelt“ empört sich eine junge Frau und reagiert misstrauisch auf die Erklärungen der Helfer, es seien rituelle Waschungen, die Muslime vor dem Gebet verrichten. Diese wiederum empören sich, dass Frauen und Männer gemeinsam in einem Zelt untergebracht sind, lassen sich aber angesichts des strömenden Regens durch den barschen Hinweis eines Ehrenamtlichen „Nass oder trocken – entscheidet Euch“ überzeugen.

Unterschiedliche Sprachen, andere Essgewohnheiten, unbekannte religiöse Bräuche, interethnische Spannungen erschweren den ohnehin stress- und angstbeladenen Alltag der Menschen, die ihre Häuser und Wohnungen verlassen mussten. Wenn jemand die Regeln nicht einhält – zum Beispiel bei der Müllbeseitigung oder bei der Essensausgabe –, kommt es schnell zu Pauschalurteilen. „Die (Migranten) lassen sich von uns aushalten und tun nichts!“, so der häufige Vorwurf. Ich würde vermuten, er ist in dieser Verallgemeinerung unberechtigt, aber aus ihm sprechen vielleicht auch tiefere, reale Wahrnehmungsunterschiede. Denn zwar ist das Erdbebentrauma allen betroffenen Menschen gemeinsam, gleich welcher Herkunft: die existenzielle Verunsicherung, die Angst ums eigene Leben und das der Angehörigen, die Ohnmacht gegenüber der zerstörerischen Naturgewalt. Aber wen wundert es, wenn das Trauma über die Trennung oder gar den Verlust des eigenen Heims bei den Menschen, die in der Region ihre Wurzeln haben, stärker wäre als bei den Migranten, die diese Verlusterfahrung bereits auf anderer Weise erlitten, als sie ihre Heimat verließen, und der erneuten Entwurzelung jetzt vielleicht mit größerer Distanz oder auch Passivität begegnen als die einheimische Bevölkerung. Die darauf wiederum mit Unverständnis oder gar Zorn reagiert.

Aber man bemüht sich eben auch, miteinander zurecht zu kommen in der gemeinsamen Not. „Dienstpläne“ werden für die Reinigung der Bäder oder für die Müllbeseitigung aufgestellt, für die die verschiedenen Communities abwechselnd Verantwortung übernehmen. In einigen Zeltlagern haben sie jeweils einen „Obmann“ benannt, der bei Konflikten Ansprechpartner ist und sich bei Bedarf auch mal „seine Leute“ energisch zur Brust nimmt, wenn zum Beispiel Regeln verletzt und Dienste nicht eingehalten werden. Die ehrenamtlichen Helfer sind multiethnisch zusammengesetzt, Schilder und Ankündigungen mehrsprachig. Die Kinder der „Tendopoli“ kennen sowieso keine ethnischen Barrieren: sie toben und spielen zusammen und bringen so auch ihre Eltern – nolens volens – in Kontakt, und sei es nur beim Versuch, die wilde Horde gemeinsam zu bändigen.

Auch hier kommt der verletzten Emilia Romagna und ihren Menschen unfreiwillig die Rolle des „Prüfsteins“ zu: nicht nur als Testfall für die europäische Politik (s. „Europa und die Emilia Romagna“ in unserem Blog), sondern auch als Minilaboratorium für das schwierige Zusammenleben verschiedener Ethnien und Kulturen buchstäblich „unter einem Dach“. Ohne trennende Wände und ohne die Möglichkeit, aneinander vorbei zu leben. In einer Situation, die an die verschiedenen Gruppen besondere Herausforderungen stellt, die nur pragmatisch zu bewältigen sind. Wie es der Ehrenamtliche aus Mirandola nüchtern auf den Punkt brachte: „Nass oder trocken – entscheidet Euch“. Die Entscheidung soll schnell gefallen sein, nach kurzem Palaver.

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