Berlusconi, eine „historische Notwendigkeit“?

Einen ausführlicheren Artikel von Hartwig Heine können Sie hier herunterladen:
„Berlusconi, eine „historische Notwendigkeit“? – eine Erwiderung auf Ernesto Galli della Loggia“

Ernesto Galli della Loggia ist italienischer Historiker und laut Wikipedia (Italien) ein „nationalpatriotischer Liberaldemokrat“. Lettre International veröffentlichte im Winter seinen Essay „Vakuum und Phänomen“. Ein „Vakuum“ sei die politische Situation von 1993/94 gewesen, nachdem die Mailänder Staatsanwälte (die „Mani pulite“) das bis dahin herrschende Parteiensystem in Trümmer gelegt hatten. Das „Phänomen“ sei Berlusconi, der aus diesen Trümmern heraus wie „Phönix aus der Asche“ seine politische Karriere begann.

Der Essay kommt zu dem überraschenden Ergebnis, dass Berlusconi für Italien „notwendig“ sei, und zwar aus folgenden Gründen:

  1. sei es zu Beginn der 90er Jahre Berlusconis historisches Verdienst gewesen, durch eine neue Sammlungsbewegung eine auf Dauer konkurrenzfähige Formation der Rechten zu schaffen und eine drohende linke Machtübernahme zu verhindern.
  2. habe Berlusconi durchaus fragwürdige Eigenschaften, die ihn zu einer politischen „Anomalie“ machten. Aber für die objektive Rolle Berlusconis seien sie zweitrangig, in mancherlei Hinsicht sogar notwendig.
  3. habe Berlusconi mit seiner Behauptung, er sei ein politisches Opfer der „Mani pulite“, in gewisser Weise Recht.
  4. Alles in allem sei die „Anomalie“ Berlusconi ein Phänomen des Übergangs, die Italien aufgezwungen sei, „um zur Normalität zurückzufinden“.

Dass Berlusconi 1994 die italienische Rechte einte, ist unbezweifelbar. Ob dies ein historisches „Verdienst“ ist, hängt allerdings von dem Projekt ab, für das sie geeint wurde. Dafür müssen wir genauer die „Anomalien“ Berlusconis ins Auge fassen, die Galli della Loggia für zweitrangig hält. Aus seiner Sicht ist Berlusconis Medienimperium kein Problem, für seine Führerschaft sogar notwendig. Aber müssen in einer Demokratie die Regierenden nicht von unabhängigen Medien kontrolliert werden? Und ist es unerheblich, ob Berlusconi seinen Reichtum und sein Medienimperium mit kriminellen Mitteln zusammenbrachte? Immerhin löste dies eine fatale Dynamik aus, die bis heute fortwirkt: Die Staatsanwälte waren so „parteiisch“, ihn wegen Veruntreuung, Bilanzfälschung, Zeugen- und Richterbestechung vor Gericht zu stellen. Daraufhin ging er in die Politik, um sich und sein Wirtschaftsimperium zu retten. Da er sich für weiterhin bedroht hält, nutzt er seine politische Machtposition, um nicht nur die Justiz, sondern auch das Verfassungsgericht und den Staatspräsidenten anzugreifen. Und ein autoritär-plebiszitäres Regime anzusteuern, das grundlegende institutionelle Gleichgewichte der Demokratie aus den Angeln hebt. Schon jetzt versucht er, das Parlament so weit wie möglich zu umgehen. Auch die von Galli della Loggia geleugnete „Repression“ ist längst spürbar. Er schaltet das Fernsehen gleich und versucht, die letzten oppositionellen Zeitungen mit ökonomischen und juristischen Mitteln aus dem Weg zu räumen. Während selbsternannte Bürgerwehren in Norditalien Jagd auf „Extracomunitari“ machen, wird das süditalienische Rosarno „negerfrei“. Die Berlusconi-Regierung klatscht Beifall.

Sieht so die „Normalität“ aus, zu der Italien mit Berlusconi „zurückfindet“? Galli della Loggias Essay negiert nicht dessen pathologische Züge, aber entlässt uns mit dem Rat, sie als „notwendig“ hinzunehmen und stillzuhalten. Wir kommen zu einem anderen Schluss: Es gibt italienische Intellektuelle, die dabei sind, sich mit der Macht zu arrangieren. Galli della Loggia ist einer von ihnen. Wir kennen dies Phänomen auch aus Deutschland.